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Die Stadt Nürtingen plant eine Entkernung des Hölderlinhauses in der Neckarsteige, wo der Dichter seine Jugend verbrachte und wohin er auch später oft zurückkehrte. Dagegen formiert sich Widerstand.

NürtingenDie Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen“, heißt es in Friedrich Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“. Die berühmten Zeilen bekommen womöglich bald einen realen Klang. Die Stadt Nürtingen plant eine Entkernung des Hölderlinhauses in der Neckarsteige, wo der Dichter seine Jugend verbrachte und wohin er auch später oft zurückkehrte. Außer Keller und Fassaden bliebe im Inneren des Gebäudes kaum mehr ein Stein auf dem anderen, warnte der Nürtinger Hölderlinverein jetzt in einem Pressegespräch. Das würde „das Nürtinger Hölderlinhaus als authentischen Hölderlin-Erinnerungsort unglaubwürdig machen und ein Kulturdenkmal zerstören“, sagte die Vorstandsvorsitzende Ingrid Dolde. Nach dem vor rund zehn Jahren von der Nürtinger Bürgerschaft verhinderten Abriss drohe nun ein Abriss zweiter Klasse.

Dass das „liebe elterliche Haus“, wie es im Gedicht „Die Stille“ heißt, sich heute in einem erbarmungswürdigen Zustand präsentiert und dringend etwas getan werden muss, darüber besteht Konsens. Die Stadt wollte das Dichterhaus am Schlossberg im Zuge einer Modernisierung zunächst aufstocken, inzwischen steht eine Aufstockung plus Entkernung auf der Agenda. Der Hölderlinverein sieht darin einen „klaren Verstoß“ sowohl gegen die Aufgabenstellung für die europaweite Ausschreibung zur Modernisierung des Dichterhauses als auch gegen die Stadtbildsatzung. Er hat deswegen eine Fachaufsichtsbeschwerde beim Wirtschaftsministerium eingereicht. Dieses ist die oberste Denkmalschutzbehörde des Landes und bestätigte unserer Zeitung gegenüber den Eingang der Beschwerde.

„Vollkommen absurde Situation“

In dem von Dolde zitierten Hölderlinhaus-Passus der städtischen Aufgabenstellung heißt es: „Gegenüber anderen Erinnerungsstätten hat es einen großen Vorteil: ein Haus, das – trotz aller baulichen Veränderungen – immer noch das originale Haus ist, authentischer Wohn- und Wirkungsort Hölderlins.“ Für Dolde wird mit dieser Würdigung bestätigt, dass es sich bei dem in der Mitte des 18. Jahrhunderts erbauten Haus um ein Kulturdenkmal im Sinne des Denkmalschutzgesetzes handle. Bislang steht das Haus selbst nicht unter Denkmalschutz, wohl aber mehrere an ihm angebrachte Plaketten. Auf einer, so Dolde, werde der ahnungslose Besucher darauf hingewiesen, dass er sich vor dem angeblich abgegangenen Elternhaus Hölderlins befinde, während er in Wahrheit vor dem originalen Elternhaus stehe, dem wiederum die Denkmal-Eigenschaften abgesprochen würden: „eine vollkommen absurde Situation“.

Das Landesamt für Denkmalpflege könne wegen der laufenden Prüfung derzeit dazu keine Auskünfte geben, erklärte das zuständige Regierungspräsidium Stuttgart gegenüber unserer Zeitung. In einer Antwort auf eine frühere Anfrage hieß es, dass das Gebäude, so wie es heute erhalten ist, durch die umfangreichen baulichen Veränderungen nicht mehr die Wohnverhältnisse der Familie Hölderlin dokumentieren könne und deshalb nicht in die Liste der geschützten Kulturdenkmäler des Landes aufgenommen worden sei.

Nürtingens Oberbürgermeister Otmar Heirich (SPD) betont, die Stadt habe in den vergangenen Jahren mehrfach beim Landesamt für Denkmalpflege nachgefragt – „2016 wurde uns zuletzt bestätigt, dass das Hölderlinhaus die erforderlichen Kriterien nicht erfüllt.“ Er verwahrt sich gegen den Vorwurf eines Behördenversäumnisses und spricht von einer „völlig absurden Unterstellung“.

Eine Bewertungskommission, der unter anderen auch Sachverständige des Schwäbischen Heimatbundes und des Hölderlinvereins angehört haben, hätte sich mit deutlicher Mehrheit für den Entwurf entschieden. Das Projekt erfahre zudem die ausdrückliche Unterstützung von Bund und Land – es erhalte 2,7 Millionen Euro Fördergelder.

Dolde sieht dagegen die Stadt nicht entlastet und verweist auf das baden-württembergische Denkmalrecht. Nach dessen Kriterien sei ein Objekt, an dessen „Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht“, auch ohne verwaltungsrechtlichen Akt bereits ein Kulturdenkmal.

Außerdem verwies Dolde beim Pressetermin auf das Gutachten des inzwischen verstorbenen Bauhistorikers Johannes Gromer. Er sei 2009 zu dem Ergebnis gekommen, dass das Gebäude „deutlich wertvoller“ sei, als man bis dahin gewusst habe. „Warum hat die Stadt bei ihren Anfragen nicht die Ergebnisse des Gromer-Gutachtens ins Feld geführt?“, fragt Dolde. Bereits in seinem Gutachten habe Gromer auf die Vielzahl der bauhistorischen Schichten hingewiesen, die das heutige Haus berge. Errichtet auf einem Schickhardt-Bau, gehörten das Hölderlinhaus und seine Vorgängerbauten zum Areal des Nürtinger Schlosses, das einst vom Haus Württemberg als Witwensitz genutzt wurde. Gromer habe vermutet, dass in dem Gebäude noch Teile einer spätmittelalterlichen Vorfestung enthalten sein könnten, und eine eingehendere archäologische Untersuchung empfohlen.

„Inszenieren statt konservieren“

Zum Vorwurf des Hölderlinvereins, die Stadt verweigere sich einer solchen eingehenderen Materialanalyse, erklärte die Stadt: „Dies hielten wir nicht für nötig und spielte bislang keine Rolle“. Thomas Schmidt, Leiter der Marbacher Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg, steht als wissenschaftlicher Berater der Stadt Nürtingen seit 2008 zur Seite und findet die jüngste vom Hölderlinverein angestoßene Kulturdenkmal-Diskussion „nach der langen und ausführlichen Debatte seit 2009 ärgerlich, weil nicht zukunftsfähig und in der Sache kontraproduktiv“. „Das Thema stellt sich juristisch nicht“, sagte Schmidt gegenüber unserer Zeitung. „Die wirklich wichtige Frage lautet heute doch: Wie bringen wir Kultur in die Zukunft?“

Den Vorwurf Doldes, von Gromer identifizierte oder vermutete Bausubstanz aus der Hölderlinzeit würde verlorengehen, kann er nicht nachvollziehen: „Die im Gutachten genannte originale Bausubstanz aus der Hölderlinzeit werden wir erhalten – und eigens markieren, um sie zu einem Anker der Erinnerung zu machen“. Mit Blick auf zukünftige Besuchergenerationen mit veränderten Kulturkonsumgewohnheiten und neue virtuelle Möglichkeiten genüge es einfach nicht mehr, historische Balken und Wände nur zu präsentieren. „Wir müssen Kultur produzieren, inszenieren, Räume erlebbar machen in einer Zeit, in der uns die Besucher an den literarischen Orten dramatisch wegbrechen“, so Schmidt. Auch mit der in der Beletage geplanten Dauerausstellung setze man sich ästhetisch bewusst von einer überholten musealen Beschwörung nicht mehr vorhandener Idyllen ab.

Auf der anderen Seite wolle man das einstige Dichter- und dann Schulhaus als Haus der Bildung erhalten; auch in den Volkshochschulräumen soll der Dichter – unter anderem durch Zitate – erlebbar werden: „Das ganze Haus soll nicht nur Hölderlin atmen, sondern durch das neue Konzept überhaupt erst zum Hölderlinhaus werden.“ Außerdem wolle man die Raumstruktur der Beletage wiederherstellen – „ein Kompromiss“, findet Schmidt, auch um die soziale Situation der Familie Hölderlin-Gock als Angehörige der wohlhabenden Bürgerschicht nachvollziehbar zu machen.

Einen Einwand von Ingrid Dolde findet Thomas Schmidt bedenkenswert: Bei einer Aufdoppelung der Wände im Rahmen einer Haus-in-Haus-Lösung müsse man in der Tat nach einer Lösung suchen, um die jetzt noch erlebbaren Raum- und Lichteindrücke des originalen barocken Gebäudes möglichst ohne Einbußen zu erhalten.

Am Dienstag, 2. April, wird im Kulturausschuss des Nürtinger Gemeinderats das Konzept der Dauerausstellung vorgestellt.