Die Villa ist leer, es werde Klang: Von der Decke hängt eines der aufzeichnenden Mikrofone. Foto: Städt. Galerie Esslingen - Städt. Galerie Esslingen

Eine Ausstellung, in der man nichts sieht, aber hört: Hannah Weinberger macht aus der Villa Merkel ein Klangraumlabor zwischen Spukhaus und totaler Überwachung.

EsslingenEs ist dies die wahrscheinlich merkwürdigste und zugleich radikalste Ausstellung, die je in der Esslinger Villa Merkel – nein, nicht zu sehen war. Denn zu sehen gibt es: nichts. Außer den leeren Räumen und den Molton-Teppichen, die die Künstlerin konsequent und ausschließlich an die Nordwest-Innenwände gehängt hat. Um den Hall zu dämpfen, denn in Hannah Weinbergers „When Time Lies“ gibt es zwar nichts zu sehen, aber zu hören. Nur: Strenggenommen gibt es in der villaweiten Klangraum-Installation vor der Eröffnung (an diesem Sonntag, 11 Uhr) lediglich einen Auszug des geplanten Soundtracks zu hören. Denn die Spuren des Sounds legen nicht zuletzt die Ausstellungsbesucher selbst: durch Trittgeräusche, Gespräche oder auch körperhaftere Laute und Töne, die von sechs Mikrofonen, eines davon in der Herrentoilette, aufgezeichnet werden. Zwei weitere Mikrofone sammeln vor der Villa Stadt- und Eisenbahngeräusche.

Poltergeister im Spukhaus

Dieses gesamte gesampelte Klangmaterial – ergänzt durch Rumpeln vom Aufbau der Installation und von der Künstlerin eingespeiste Handy-Klingeltöne nebst allerlei Ploppen, Rauschen, Trommeln und Knacken – wird durch einen zufallsgesteuerten Algorithmus in stets wechselnder Kombinatorik auf 19 Kanäle verteilt und von 19 Lautsprechern ins Villa-Interieur übertragen. Und zwar in räumlicher und einer zeitlichen Entgrenzung, die sich über die gesamte Installationsdauer erstrecken kann. Wer also beispielsweise am Bodenmikrofon im Obergeschoss forschen Stiefeltritts vorbeistampft, trampelt möglicherweise vier Wochen später als unsichtbarer Poltergeist durch den Gartensaal im Erdgeschoss. Die Toilettenspülung rauscht zeitverzögert durch andere als Sanitärräume, und der Güterzug scheppert hörbar auf der falschen, der Neckarseite vorbei: Die Villa verwandelt sich in ein Spukhaus.

Freilich zielt Weinbergers Opus nicht (nur) auf eine Geisterbahn akustischer Halluzinationseffekte, die von einer ausgeklügelten Technik erzeugt werden. Vielmehr bringt die Installation ihre Besucher in eine Lage, wo die Augen nicht mehr dem trauen, was die Ohren hören und umgekehrt, wo An- und Abwesenheit ununterscheidbar werden. Es geht also um eine Entkoppelung der Sinne und ihrer Wahrheit, die fraglich wird: letztlich auch eine Selbsterfahrung in puncto Fake News. Darauf spielt der Ausstellungstitel an: Wenn die Zeit lügt, passieren Dinge, die nicht passieren – zumindest nicht im gewohnten zeitlichen Gefüge. Weil aber „time lies“ doppeldeutig ist – es kann auch mit „die Zeit liegt“ übersetzt werden –, kommt eine andere Bedeutung ins Spiel: Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen liegt auf der Allgegenwart der Klangspuren zwischen Vergangenheit und Echtzeit. Simuliert wird damit auch eine Situation totaler Überwachung, verdichtet im lokalen Villa-Raum, global geöffnet durch einen weiteren technischen Kniff: Bei der Aufsicht am Eingang läuft ein ganz besonderes Radio, ausgestattet mit der Software radio.garden, die rund um den Globus per Livestream alle digitalen Radiosender erschließt. Und so fließen potenziell Programmausschnitte von Pakistan bis Radio Vatikan ins installierte Sound-System ein.

Die mit Performance, Video- und Klangkunst bekannt gewordene Hannah Weinberger – 1988 in Filderstadt geboren, in Tübingen aufgewachsen, heute Dozentin an der Kunsthochschule Basel – führt mit ihrer Installation die aleatorischen Experimente von Zufallsmusikern wie John Cage weiter und spitzt sie zu auf aktuelle technisch-mediale Möglichkeiten und Risiken. Zu deuten ist ihr Esslinger Projekt bislang nur als Konzept, für die entscheidenden Inhalte sind die Besucher zuständig, denen die Rolle von Mitschöpfern zuteil wird. Die Barriere zwischen Kunstproduzent und Rezipient ist gefallen – und wer weiß: Vielleicht verreißt sich ja der eine oder andere Ausstellungsbesucher das Maul, steuert relevante, brisante, interessante Töne zum installierten Klangfluss bei. Bis es so weit ist, gilt in Weinbergers Sinnesverwirrungslabor die Devise: Wer Augen hat zu hören, der warte.

Eröffnung am Sonntag, 16. Dezember, 11 Uhr. Die Klangraum-Installation dauert bis 3. März. Öffnungszeiten: dienstags von 11 bis 20 Uhr, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr. Geschlossen am 24 und 25. Dezember.