Perfekte Balance mit entfaltetem Bein: Marlúcia do Amarals Pose symbolisiert eine Auszeit von der Hässlichkeit irdischen Wahnsinns. Foto: Gert Weigelt Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Ludwigsburg - Wieder einmal gibt es zu wenig Tanz bei den früher so innovativ damit prunkenden Ludwigsburger Schlossfestspielen. Ehe von 2019 an das Tanztheater von Sasha Waltz alleinseligmachend regieren wird, genießen wir in diesem Sommer immerhin die bunte Vielfalt von zwei unterschiedlichen Produktionen. Neben der belgischen Tanztheater-Avantgarde gehört zum Glück auch das Ballett am Rhein zu den Lieblingen von Festspielchef Thomas Wördehoff. Deutschlands wichtigste moderne Ballettkompanie gastierte mit ihrer kaum drei Wochen alten Uraufführung, der „Petite Messe Solennelle“ ihres Direktors und Chefchoreografen Martin Schläpfer.

Nicht den „Messias“ oder das „Weihnachtsoratorium“ wie John Neumeier, nicht Mozarts „Große Messe“ wie Uwe Scholz, sondern das putzige, weise Rentner-Spätwerk des Koloraturfeuerwerkers Gioacchino Rossini hat sich der Schweizer Choreograf ausgeguckt, ein lediglich von zwei Klavieren und einem Harmonium begleitetes, auch im Chor kleiner besetztes Werk zwischen feierlich und volkstümlich - „eine Messe fürs Wohnzimmer“, wie Schläpfer launig bei der Einführung im Forum am Schlosspark erklärte. Er schätze an Rossini das Menschliche, die Weisheit und das Eingestehen der Fehlerhaftigkeit alles Irdischen. Wo sein Hamburger Kollege Neumeier gern das Pathos dick aufträgt, da ist es beim Düsseldorfer Ballettchef der Zweifel.

„Basta!“

Ausstatter Florian Etti hat die typische Schläpfer’sche Gratwanderung zwischen konkret und abstrakt perfekt verinnerlicht: Auf drei Seiten begrenzen weite, elliptische Bögen die Bühne, vielleicht die schattenspendenden Arkaden eines Dorfplatzes, vielleicht ein Kreuzgang. Eine lange, leere Stuhlreihe wird später ins Eck geschoben und evoziert die gesamte Bandbreite zwischen Gemeindehaus und der absurden Leere von Eugène Ionescos „Die Stühle“. Wie jedes Schläpfer-Werk setzt sich auch dieser Abendfüller puzzleartig aus vielen kleinen Bildern zusammen, in denen immerhin einige Figuren wiederkehren, der merkwürdig gehemmt wirkende Priester etwa.

Dazwischen trifft Weltliches auf Weltüberwindendes, angefangen beim Bäckersjungen über einen politischen Aufmarsch mit roten Fahnen bis hin zur Dorfjugend, die zu Rossinis „Agnus Dei“ statt dem „Lamm Gottes“ große Schinkenkeulen im Arm wiegt. Da wird Espresso getrunken, geraucht und auch mal „Basta!“ geschrien, aber die kleinen Leute auf dieser mediterranen Piazza der Nachkriegszeit erscheinen hier nur selten so liebenswert wie in „Don Camillo und Peppone“, wirken arg in sich versunken. Die überwiegende Mehrzahl der Figuren sind Eigenbrötler und Einsame, verkörpert vielleicht am besten in einer über und über mit Rosenkränzen behängten Frau, die nach einem verzweifelten Solo resigniert darniedersinkt.

Choreografenkollege Mauro Bigonzetti siedelte einst seine „Cantata“ auch auf einem italienischen Dorfplatz an, aber bei ihm schlug trotz aller gebrochenen Linien doch die lebensfrohe Italianità voll durch. Dieser Abend dagegen wirkt eher vergrübelt-deutsch, oder besser schwyzerdeutsch. „Ich bin auch Schweizer - das heißt, man bleibt Bauer“, hatte der Choreograf vorab gewitzelt, aber Schläpfer ist ein philosophierender Naturmensch, ein zeitweiser Eremit. Choreografisch untersucht er hier das Gefangensein des Menschen in banaler Alltagsbewegung und die Sehnsucht nach erlösender Schönheit. Ob seine Kompanie barfuß, auf Spitze oder in robusten Straßenschuhen unterwegs ist, immer wieder fällt zwischen den lustvoll in den Boden gestampften Hacken und den grotesken Charakterskizzen ein Streben nach oben, ins Freie und Befreiende auf: die Kelchform, die gefüllt werden will, die weit geöffneten Arme, der zurückgeworfene Kopf, die kraftvoll nach oben gestreckten Beine.

Manchmal vermeint man, in Dantes Purgatorium zu sein, im Vorhof zu Himmel oder Hölle, wo die sinnsuchenden Menschen ihr Schicksal erwarten - ratlos, unbekümmert oder in tiefem Glauben.

Jenseits des irdischen Wahnsinns

Die Gruppen ändern sich ständig, manchmal löst sich einer und wird zum Einzelgänger, dann wieder verschwindet ein Außenseiter in der Menge. Einmal scheint gar ein Engel zu Besuch zu kommen, wenn der großgewachsene Marcos Menha das „Quoniam tu solus Sanctus“ voll Zuversicht in strahlend-akademischer Schönheit zelebriert. Aus rustikaler Erdverbundenheit, aus gestampften Tänzen steigen sie über sich hinaus, suchen in der irdischen Groteske die geistige Schönheit, bei all ihrer menschlichen Unvollkommenheit.

Zum Schluss ist dieser Weg noch einmal in extremis bei Schläpfers Muse Marlúcia do Amaral zu sehen, die plötzlich mitten unter der Menge im Veitstanz zuckt, ein alte Hexe mit aufgelösten Haaren, in einer wahrhaft erschreckenden Verwandlung. Dann aber entfaltet sie langsam ihr Bein nach oben und steht sekundenlang in perfekter, in sich ruhender Balance, bevor der irdische Wahnsinn sie wieder krümmt und hässlich macht.

Bei aller hermetischen Verschlossenheit, die Schläpfers Werke oft schwer zu enträtseln macht (und dieser Abend ist vorne dabei): Nur wenige Choreografen können in reiner Bewegung derart tiefe Gedanken versinnbildlichen. In einem Monat, am 22. Juli, ist die „Petite Messe Solennelle“ im Fernsehen auf 3sat zu sehen.

Nächstes Tanzgastspiel bei den Festspielen: Alain Platels „Nicht schlafen“ mit den Ballets C de la B am 24./25. Juni.

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