Der Wendepunkt: Eitan (Martin Bruchmann, links) ist bei einem Terroranschlag in Israel schwer verletzt worden. Sein Vater David (Itay Tiran) Foto: Matthias Horn - Matthias Horn

Das viersprachige Stück schildert eine jüdisch-arabische Liebe vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts: Die Geschichte weckt alte Familientraumata – und sie geht nicht gut aus.

StuttgartSie sind jung, intellektuell, modern. Dass er jüdischer und sie arabischer Herkunft ist, spielt keine Rolle. Vorerst. Der Berliner Eitan liebt die US-Amerikanerin Wahida – eine große Liebe, noch ungetrübt von den Schattenwürfen der Vergangenheit. Alles ändert sich, als Eitans Familie ins Spiel kommt. Was der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad in seinem Stück „Vögel“ daraus virtuos erwachsen lässt, ist eine Katastrophe antiken Ausmaßes – geboren aus dem Zerbersten eines familiären Lügengebäudes. Darin ist nichts mehr so, wie es einst schien. Und Eitans Vater am Ende tot.

„Vögel“ eröffnete in Stuttgart die neue Spielzeit. Nach Armin Petras leitet jetzt Burkhard C. Kosminski, zuvor Intendant in Mannheim, das Stuttgarter Schauspiel. Kosminski steht für Autorentheater. Während viele andere Häuser ihre Geschichten in Romanvorlagen suchen, die sie woanders nicht zu finden glauben, setzt er auf zeitgenössische Theatertexte. Der Spielplan steckt voller Ur- und Erstaufführungen. Aber Kosminski will auch kulturelle Vielfalt demonstrieren, bis ins Ensemble hinein. Und daraus erwachsen die positiven Energien des Premierenabends. In dieser Hinsicht sind die von Kosminski selbst inszenierten „Vögel“ ein programmatischer Coup.

Vierklang der Sprachen

Wie bei der Uraufführung, die Autor Mouawad 2017 an seinem eigenen Theater in Paris inszenierte, herrscht auf der Bühne Sprachenvierklang: Arabisch, Hebräisch, Deutsch und Englisch – ein Bild für die aufgefächerten kulturellen Identitäten der Protagonisten. Die jüdische Familie, aus deren Sicht der israelisch-arabische Konflikt beleuchtet wird, lebt verteilt auf drei Kontinenten. Es geht um Familientraumata, Generationskonflikte, Schuld. Deutsche Übertitel werden gut sichtbar auf die weißen Leinwandplanen projiziert, die der ansonsten kargen und nur minimalistisch möblierten Drehbühne ein bisschen Fassung von oben verleihen. Die Besetzung ist international. Man spricht Muttersprache.

Dass Eitan eine arabische Frau liebt, ist für seinen religiös-fanatischen Vater David ein absolutes Desaster. Da beißt Eitan auf Granit, da kann er noch so viele Argumente auffahren, von denen er als Biogenetiker wahrlich genug auf Lager hat: „Unseren Genen ist unser Dasein egal. Die Traumata deines Vaters stehen in deinen Chromosomen nicht geschrieben. Auschwitz hat nicht in das geringste Gen eingegriffen, nicht in die kleinste DNA meines Großvaters.“ Aber da bleibt der Vater stur-autoritär: Abstammung, jüdische Tradition, die Schrecken des Holocaust – das sind seine Fixpunkte. Wolle Eitan wirklich Wahida heiraten, beginge er einen „Vatermord“. Mehr Herz und Verständnis findet Eitan bei seinem Großvater, einem Holocaust-Überlebenden.

Auf einer Forschungsreise Wahidas und Eitans nach Israel wird er Opfer eines Terroranschlags. In einem Jerusalemer Krankenhaus liegt er im Koma – ein dramaturgischer Kniff zwecks Familienzusammenführung, die die minuziöse, sich über Stunden hinziehende Aufdeckung eines bis dahin von den Großeltern gut gehüteten Geheimnisses initiiert, an deren Ende klar ist: Eitans fundamentalistisch jüdischer Vater ist eigentlich ein palästinensisches Findelkind – eine Erkenntnis, die diesem den Boden unter den Füßen wegzieht. Wahida derweil entfremdet sich mehr und mehr von ihrem Freund. Ein Besuch in Ramallah, im palästinensischen Autonomiegebiet, erweckt die arabische Seele in ihrer Brust, was am Ende zur Trennung von Eitan führt.

Sarkastischer Witz

„Vögel“ dauert lang, es wird sehr viel geredet, diskutiert, monologisiert, phasenweise auf ermüdende Weise. Doch trotz des schwergewichtigen Themas ist das Stück unterhaltend: dank Vermischung der Szenen mit Poesie – so spielt ein altes persisches Märchen eine besondere Rolle – , vor allem aber dank seines sarkastischen Witzes. Eitans Mutter etwa, Psychoanalytikerin, erhält immer wieder Anrufe eines Patienten, eines Künstlers, der Bilder ausschließlich mit seinem Sperma malt: „Er holt sich dreimal täglich einen runter und sammelt seine Ergüsse in einem Töpfchen“. Pointenreich sind auch die Kommentare der politisch ziemlich inkorrekten Oma Eitans, eine israelische Dame mit derb-zynischem Humor, von Evgenia Dodina bodenständig gespielt, die sich gemeinsam mit dem Wärme verstrahlenden Dov Glickman als ihrem Ex-Mann und Eitans Großvater in die Herzen des Publikums spielt.

Als Regisseur tut sich Kosminski schwer, den Abend straff zu halten. Die Personenführung wirkt oft statisch, im Wortrausch der Protagonisten werden Zwischentöne bisweilen lautstark überdeckt – als äußere sich Verzweiflung immer nur polternd. Und das von Mouawad reichlich vergossene Pathos wird durch eine recht plakative Gestik noch unterstrichen. Silke Bodenbender als Eitans Mutter bleibt blass, Amina Merai als Wahida bedient sich einer fast durchgehend schneidenden, skandierenden Artikulation. Martin Bruchmann als Eitan – ein zu Beginn herrlich verwirrter Verliebter – verleiht seiner Figur Dauerwut, was in diesem Falle immerhin passt. Der israelische Starschauspieler Itay Tiran als Vater David spielt sich frei – und immer intensiver in seine andere, ihn prägende Rolle hinein: die des traumatisierten Sohnes, dessen Ängste und Verletztheiten er freilegt bis zum finalen Wahnsinn.

Trotz Mängel ist der Abend lohnend. Denn selten wird ein so brisant-aktuelles Thema mit so viel Leichtigkeit erzählt.

Die nächsten Vorstellungen: 6., 7., 20. und 21. Dezember, 6., 7. und 8. Januar.