Szene aus „Der Seewolf“ mit (v.l., vorn) Markus Michalik, Marcus Michalski und Benjamin Janssen . Foto: Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Esslingen - „Ihr seid alle meine Freunde“, lädt der Schöngeist seine Kumpels zu einem kleinen Theaterexperiment ein, bei dem sich bald schon alle bis aufs Messer bekämpfen werden. Gegeben wird auf der Bühne des Esslinger Schauspielhauses „Der Seewolf“ nach Jack London in einer Romandramatisierung von Tom Blokdijk.

Der Prolog zum Nachspielen eines grausamen Überlebensdramas beginnt ganz harmlos. Noch ehe die Lichter im Saal verlöschen, unterhält sich an der Seite im Parkett ein Pärchen. Smalltalk, eine kurze Umarmung und Bussi zum Abschied, dann marschiert der junge Mann auch schon auf die Bühne. Im richtigen Leben ist Humphrey van Weyden ein Spezialist für Literatur und bespricht Bücher und Gedichte, zum Beispiel die der Frau an seiner Seite. Sie heißt Maud Brewster und ist Autorin. Doch nicht nur die Liebe zu Kunst und Literatur verbindet die beiden, sondern vor allem ein gemeinsam durchlittenes Schicksal. Beide hatten Glück im Unglück und wurden als Überlebende ihrer gesunkenen Schiffe von einem Robbenfänger aufgegabelt. Doch gegen das Martyrium, das den Überlebenden auf dem Schoner des „Seewolfs“ Larsen bevorstehen sollte, war die Havarie, die man zu Beginn im Kinogroßformat sehen kann, wohl noch einigermaßen harmlos. Es folgte ein Alptraum, aus dem die Überlebenden als andere Menschen zurückkehrten.

Spiel mit vertauschten Rollen

Offenbar hielten selbst ihre engsten Freunde die mündlichen Berichte für Seemannsgarn, und deshalb entscheidet sich Humphrey, den Kreuzweg im Spiel mitsamt den Freunden noch einmal zu durchleben - sozusagen mit vertauschten Rollen. „Du spielst mich“, gibt er seinem besten Freund Charley zu verstehen. Das passt auch von der Profession her, denn Humphreys Alter ego ist Professor für Philosophie. Der Schiffskoch Thomas Mugridge wird von Ted Sloane, einem Akademiker, gespielt, die drei Matrosen Johnson, George Leach und Dicker Louis sind im echten Leben ein Kulturexperte, ein Börsenprofi und ein Holzhandelsunternehmer.

Regisseur Daniel Wahl hat dieses „Theater auf dem Theater“ als eine Art transparentes Versuchslabor angelegt. Ein antinaturalistisches nüchternes Setting (Bühne und Kostüme: Viva Schudt), bei dem die Protagonisten auf sich selbst zurückgeworfen sind, nachdem sie die Tür dieses Treibhauses der Allmachtsgelüste und Gewaltfantasien hinter sich geschlossen haben. Lediglich die Requisiten in dem bis zur Brandmauer aufgerissenen Bühnenschlund erinnern an die historische Schiffssituation der „Ghost“, dabei herrscht im Innenraum der enthemmten Gewalt - ein Fingerzeig auf die sich bald einstellende emotionale Ausnahmesituation - ein ziemliches Durcheinander: Eine Leiter, Bierkisten und Spinde samt den handelsüblichen feuchten Männertraumpostern stehen herum; eine Dartscheibe dient dem Zeitvertreib, ein Teil der Bühnenbeleuchtung als Takelage. Und nicht zu vergessen die „Seewolf“-Kartoffel. Gleich säckeweise lagert in der Kombüse jene filmikonische Knolle, die Raimund Harmstorf 1971 in einer legendären Szene des TV-Vierteilers wie eine Schmeißfliege in der Hand zerquetschte.

Die Zuschauer sind durch eine Plexiglaswand von den Akteuren getrennt, die sich zu Beginn für ihre neuen Rollen umziehen. Das geht ebenso fix wie die Identifizierung mit ihnen. So etwas wie Intimität gibt es bei diesem Selbstversuch im Glashaus der niedrigen Instinkte nicht, und so muss Freund Charley beim Kleiderwechsel gleich einmal vor aller Augen blank ziehen. Und ebenso fix lassen die Probanten die Hüllen des Anstands und gegenseitigen Respekts fallen. Zum Eingewöhnen in die coole Brutalisierung des Alltags setzt es eine softe Ice-Bucket-Challenge, die sich in aufgeheizter Atmosphäre mit geriebenen Kartoffeln im Wasserkübel wiederholt. Alsbald klatschen nicht nur unappetitliche Fontänen von Gekochtem und Erbrochenem gegen den gläsernen Bühnenvorhang, sondern auch die Schädel der von Kapitän Larsen drangsalierten Besatzung, die sich unversehens in einen Blutrausch hineinspielt. Am härtesten trifft es Charley alias Humphrey (Marcus Michalski). Er muss eine regelrechte Erniedrigungsparty samt Bierdusche über sich ergehen lassen und sein eigenes Blut von der Scheibe wischen - Florian Stamms Schiffskoch gibt am Mikro wie ein angekokster DJ den Takt des beschleunigten Exzesses vor. Zum dekadenten Wettsaufen legt man „Hurra, die Welt geht unter“ der Berliner Hip-Hopper K.I.Z. auf, das Robbenmassaker wird mit blutroten Wischmoptüchern zu blütenreinen Sopranklängen zelebriert.

Erst einmal in Fahrt, gibt es bei dieser Verrohungsorgie, die von der in einem Eisbärenkostüm stumm durchs Jagdrevier der Niedertracht tapsenden Maud (Stephanie Biesolt) stumm beobachtet wird, kaum noch Beißhemmungen. Leitwolf Larsen, als hemmungsloser Sadist trefflich von Humphrey (Oliver Moumouris) verkörpert, lebt dem Rudel vor, was es heißt, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. „Fressen statt gefressen zu werden“ lautet sein darwinistisches Credo. Den Tod eines Steuermanns, der fortan lemurenhaft wie ein Fluch auf der „Ghost“ herumspukt, nimmt der skrupellose Boss billigend in Kauf, als wär’s eine läppische Laune der Natur. Das Matrosenleichtgewicht Johnson (Ulf Deutscher), der ihn retten wollte, landet selbst wie ein Galgenvogel kopfüber am Flaschenzug. Und schließlich geht sein Peiniger Leach (Benjamin Janssen) noch auf seinen Co-Folterer Mugridge los und beleidigt den Koch als Missgeburt einer Hure.

Wüstling mit zwei Gesichtern

Das alles wird mit Splatter- und Tarantino-Anleihen ästhetisch schön deftig angerichtet. Wie der Wüstling Larsen irgendwann seine andere, kultivierte Seite des fleißigen Autodidakten hervorkehrt und seinen Absturz in die Barbarei mit dem Hinweis auf frühe Gewalterfahrung zu erklären versucht, wirkt dagegen ebenso fad klischiert wie der unvermittelte Umschlag bei Charleys Humphrey, als der ziemlich unvermittelt „ein brennendes Verlangen zu morden“ verspürt.

Als Triumph der Gewalt ist dieser „Seewolf“ eine Wucht. Tragik und Komik der Dämonie abgrundtiefer menschlicher Bösartigkeit bleiben hingegen so schlaff wie die Segelattrappe auf der Bühne - weniger ein Problem der Inszenierung als der Romandramatisierung.

Die nächsten Vorstellungen: 20. Oktober, 10., 16. und 18. November.