Auf Anarchotrip: Clown Tannhäuser Foto: Enrico Nawrath - Enrico Nawrath

Eine Anarcho-Performancetruppe, ein Tannhäuser, der sich zum Clown macht, ein Roadmovie: Tobias Kratzers Inszenierung ist einfallsreich und witzig, im entscheidenden Punkt aber belanglos. Die Kunstrevolution, die hier behauptet wird, mündete längst in den Mainstream.

BayreuthIn der Ouvertüre zoomt Posaunenschall das Pilgerchorthema heran, im Video eine luftige Drohnenkamerafahrt die Wartburg, den Thüringer Wald, den Tann ohne Häuser (der Gag muss sein), schließlich einen klapperalten Citroën-Transporter, der einsam über die Asphaltbahn rollt. In Tobias Kratzers „Tannhäuser“-Neuinszenierung zum Auftakt der Bayreuther Festspiele fährt ein Aktionskünstlerquartett zwischen Trash und Tingeltangel in dem motorisierten Thespiskarren: eine mobile Gegengesellschaft – subversiv, anarchisch und ein bisschen kriminell. Man schlägt sich durch, klaut Benzin in der Tiefgarage und Hamburger bei Burger King, wirkt wie die älter gewordenen Jugendlichen aus Wolfgang Herrndorfs „Tschick“. Und gleichzeitig sind es Wiedergänger kulturell längst ins Konsens-Boot geholter Tabubruch- und Verweigerungs- und Nonkonformismus-Fiktionen: eine Venus im hautengen Glitzer-Einteiler, ein kleinwüchsiger Oskar Matzerath mit Blechtrommel (Manni Laudenbach), ein Horrorclown namens Tannhäuser und die nigerianisch-britische Drag Queen Le Gateau Chocolat, die sich selbst in ihrer Diversity-Rolle spielt.

Bewegung oder Stillstand

Regisseur Kratzer erklärt mit alldem einen menschlich-männlichen Grundkonflikt kurzerhand für ein inneres Scheingefecht. Eigentlich ist Richard Wagners Tannhäuser ein armer Mann, der sich nicht entscheiden kann: einerseits Protestsänger für die freie Leibe und gegen die lustfeindliche Gesellschaft, andererseits erpicht auf hochkulturellen Ruhm und Anerkennung. Einerseits gelüstet es ihn nach Sex, nach Venus und ihrem Berg, andererseits nach Liebe. Die weiblichen Objekte seiner Begierde – drunter macht’s Wagner nicht – müssen gleich die Liebesgöttin selbst und die heilige Elisabeth von Thüringen sein, mythologisch die eine, realkatholisch die andere. Kratzer aber schiebt nicht mehr die Hure-und-Heilige-Nummer aus den Verklemmungstiefen männlicher Frauenklischees. Es geht nicht um Exzess oder Erlösung oder die Vermittlung zwischen beiden, die Religion. Es geht um Bewegung oder Stillstand, im wörtlichen wie gesellschaftlich übertragenen Sinne. Der Venusberg ist kein Ort, sondern eine Lebensform: Aufbruch der mobilen Politkünstler-Anarchos ins radikal Andere, mit allem Avantgarde-Pathos seit Richard Wagners Revoluzzer-Zeiten dahinter. Dagegen das gesellschaftliche Establishment: eingesperrt in starre Wartburg-Mauern wie in die Vorstellungswelten einer rückwärts gewandten Soziokultur. Und zwischen den Sphären pendelt Tannhäuser, der bewegte Mann. Lotet man in Kratzers Lesart nach seinen Motiven, liegen sie nicht auf der Matratze, weder der einen (Venus) noch der anderen (Elisabeth). Was diesen Manne im Innersten bewegt, ist sein Narzissmus: Tannhäuser – darin seinem Schöpfer Wagner ähnlich – will geliebt werden für die Verwandlung seines Lebens in Kunst, und zwar zugleich als rebellischer Außenseiter wie als Society-Liebling. Frustration erträgt er nicht. Da verbrennt er am Ende lieber den „Tannhäuser“-Klavierauszug. Und aus dem „Venusberg“-Citroën büchst er nicht aus sexuellem Überdruss aus, sondern weil die rabiat fahrende Venus bei der Flucht nach der Einklautour einen Polizisten umnietet, der blutüberströmt auf der Fahrbahn liegenbleibt. Das geht Tannhäuser denn doch zu weit. Der junge Hirt – eine Radfahrerin (Katharina Konradi) – liest ihn von der Straße auf und geleitet ihn heim ins Bayreuther Reich. Der Pilgerchor: die zum Grünen Hügel ziehenden Festspielbesucher; eine Schnupperdosis kunstreligiöser Verzückung ist schließlich noch heute im Eintrittspreis inbegriffen.

Dann aber „Tannhäuser“ als Roadmovie: Das zieht sich als Geflecht aus Manuel Brauns exzellenten Videos und leibhaftiger Bühnenaktion durch den Dreiakter. Das kreiert wunderbare Bilder – etwa wenn Venus und Tannhäuser, soeben vom Film- ins Live-Bild befördert, auf den Vordersitzen ihres Citroën wippen, mehr als von Schlaglöchern von Wagners Venusbergmotiv beschwingt, als käme es aus dem Autoradio: ein Moment anarchistischer Lebenslust – und dazu wackelt hinter der Windschutzscheibe ein Stinkefinger-Plastikteil auf einer Feder. Überhaupt ist die Inszenierung ein erster Beitrag zum Thema „Bayreuth wie es singt und lacht“. Da gibt’s viel Lustiges, zum Beispiel ein Schild zur „mangels Nachfrage“ geschlossenen Biogas-Anlage – eine freche Watsche für Sebastian Baumgartens Vorgänger-„Tannhäuser“, der aus bis heute unerfindlichen Gründen in einer solchen Anlage spielte. Nebst weiterem Anspielungswitz kommen Schlingensief-Karnickel vor, Castorf-Atmosphäre ist sowieso omnipräsent bis fast zur Kopie, und im zweiten Akt setzt es eine veritable Kriminalklamotte. Auf der unteren Bühnenhälfte bemüht Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier den fest gemauerten Mittelalter-Mummenschanz einer altvorderen Inszenierungstradition: den Wartburgsaal als Bayreuther Festspielhaus-Theaterwirklichkeit vor ’45. Oben zeigt der Film, was sonst noch passiert: Die Venus-Truppe dringt ins Allerheiligste ein, natürlich nicht ohne vorher eine Absperrung umzufahren. Auf der Toilette der Edelknaben-Garderobe – Achtung, Gender-Alarm: es handelt sich um eine Edelknäbin – wird die Darstellerin überwältigt, in deren Kostüm Venus auf die Bühne geht und dort pampige Miene zum Sängerkriegsspiel macht. Sehr komödiantisch, bis Katharina Wagner (die echte, aber im Film) 1-1-0 wählt. Mit gestreckter Dienstwaffe stürmen die Beamten die Bühne und verhaften Tannhäuser, der sich soeben um Kopf und Kragen gesungen hat. Zur Buße nach Rom? Von wegen: in den Knast!

Alles witzig und kurzweilig, samt poppigem Pausen-Intermezzo am Teich im Park – aber im entscheidenden Punkt belanglos. Kratzer will den Revolutionär und Dresdner Barrikadenkämpfer Wagner – gespielt wird die Dresdner „Tannhäuser“-Fassung – gegen den späteren Bayreuther Messias der eigenen Kunstreligion ausspielen. Das Motto „frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“ des jungen Wagner wird zur plakativen Parole der Anarcho-Truppe. Nur: Wen soll die in ihrer Groteskfilm-Putzigkeit heute noch provozieren? An welchen Hochkultur-Vorbehalten kratzt das kommode Roadmovie-Passepartout? Wo sind die künstlerischen Tabus, deren Bruch nicht in den kulturellen Mainstream mündete? Muss lange her sein. Kratzers Inszenierung bedient sich bewährter medialer Erfolgsrezepte und hat – Erfolg. Die paar Prisen aus dem ollen revolutionären Salzstreuer würzen nur den Wagner-Eventkult – wie am Ende die paar Buhs im allgemeinen Jubel.

Heftiges Missfallen erntete indes Dirigent Valery Gergiev – wenn’s nicht politisch motiviert war (im Vorfeld gab es sogar eine Demonstration gegen den Putin-Kumpel), war es künstlerisch allemal gerechtfertigt. Nach schlankem, schönem Beginn mit Schwung, straffen Steigerungen, prägnantem Streicherglanz und züngelnden Trompeten hat der Hansdampf in allen möglichen europäischen Festspielgassen die Partitur zusehends heruntergeschlampt: matt, profillos und teils unpräzis. Das Bayreuther Singen wiederum war zumindest einmal zum Lachen, als Lise Davidsens Elisabeth ihr hohes H hysterisch gellend über das Ensemble im zweiten Akt wuchtete. Die Sängerin hat eine Eisengießerei in der Stimme, ihre Hallenarie klang eher nach Abrissbirne: laut und schwermetallisch. Immerhin, ihrer Preghiera im dritten Akt gewann die Sopranistin innigere Töne ab – das voluminöse Stimmmaterial ist durchaus der Formung fähig. Auch Stephen Gould als Tannhäuser kam anfangs nicht ohne Pressuren und Blessuren über die Runden, aber seine Rom-Erzählung hatte packendes expressives Format. Die spielerisch überragende Venus der Elena Zhidkova litt sängerisch an einem scheppernd-tremolierenden Forte, ließ aber ansonsten einen runden, klar fokussierenden Mezzo-Kern hören. Markus Eiche sang einen nobel-unsentimentalen Wolfram, Stephen Milling einen bestens deklamierenden, aber auch kantablen Landgrafen. Trefflich die Sängerkrieger Daniel Behle als feinsinniger Walther und Kay Stiefermann als aggressiver Biterolf. Und schlichtweg fulminant Eberhard Friedrichs Chor.

Nur das Ende vom Lied ist bitter

Aber das Ende vom Lied ist bitter: Was Kratzers Regie zuvor ins Unglaubwürdige ausblendete – die Verfemung des Künstlers Tannhäuser –, zeigt sie im dritten Akt als Realität brutalen Gescheitert-Seins. Der Citroën auf dem Schrottplatz, Oskar wischt sich den Hintern mit den Wagner-Parolen, die Drag Queen hat als Werbefigur zum Kapitalismus rübergemacht. Und die nun als Borderlinerin erkennbare Elisabeth hat Verzweiflungssex mit dem als Tannhäuser-Clown verkleideten Wolfram, ritzt sich die Pulsadern auf, verblutet. Der als Penner zurückkehrende Tannhäuser zerrt ihre von Oskar geschändete Leiche aus dem Lieferwagen – und Wagners finales Erlösungspathos gilt nur noch einer (Film-)Projektion: Tannhäuser mit Elisabeth (statt Venus) durch die Lande tuckernd – das wär’s. Traute Zweisamkeit statt Revolution. Den logischen Bruch in Kauf nehmend setzt Kratzer in Szene, was er zwei Akte lang gefällig überspielte: menschliche Tragik.

Weitere Vorstellungen (ausverkauft): 28. Juli, 13., 17., 21. und 25. August.