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Der Tänzer Ciro Ernesto Mansilla ist in Argentinien in einem von Bandenkriminalität und Drogenhandel geplagten Stadtviertel aufgewachsen. Jetzt ist er Solist beim Stuttgarter Ballett.

StuttgartDer Weggang einprägsamer Tänzer lässt die viel gelobte Männerriege des Stuttgarter Balletts ausgedünnt erscheinen. Ciro Ernesto Mansilla kann als neuer Solist den Eindruck abmildern; im aktuellen Spielzeitbuch allerdings findet man weder seinen Namen noch ein Foto. Das Jahresprogramm war schon gedruckt, als Ballettintendant Tamas Detrich dem Argentinier im Sommer 2018 eine Stelle als Gruppentänzer anbot.

Nun, gut ein halbes Jahr später, kann der 24-Jährige, der beim Nationalballett Uruguay große klassische Rollen tanzte, sein Glück noch immer kaum fassen. Wenn er seine Geschichte erzählt, ist es so, als spräche er zu sich selbst: Den Blick nach innen gerichtet, knetet er seine beringten Finger, bis sie knacken. Für den in Paraná geborenen Mansilla erfüllt sich ein Lebenstraum: eine Tänzerkarriere in Europa. Allein die Reise zu finanzieren, war für den Spross einer armen Familie ein Kraftakt. Viel Zeit zum Abwägen, ob er sein Erspartes für ein Vortanzen in Deutschland antasten sollte, blieb ihm nicht, als ihn vergangenes Jahr eine Einladung aus München erreichte. In der Mail hieß es, er solle in einer Woche da sein. „Eine Stimme in mir sagte: Du musst hingehen“, erinnert sich Mansilla. Umso größer die Enttäuschung, als sich an der Isar niemand so richtig zuständig für den Bewerber fühlte.

Was tun? „Seit ich die Titelrolle von Crankos ,Onegin‘ in Uruguay getanzt habe, wollte ich dorthin, wo dieses Meisterwerk entstanden ist.“ Also fuhr er weiter nach Stuttgart und trainierte den Rest seiner Ferienwoche mit der hiesigen Kompanie – beobachtet vom designierten Ballettdirektor Detrich. „Marcia Haydée hatte Tamas schon von mir berichtet“, erzählt Mansilla, der die Direktorin des Balletts von Santiago de Chile kennt, seit er Don José in ihrer „Carmen“ verkörperte. Am dritten Trainingstag bot Detrich dem langgliedrigen Tänzer ein Engagement an. Noch heute dankt Mansilla seiner inneren Stimme.

„Als ich im November in Stuttgart ankam, fand ich meinen Namen als Erstbesetzung oder als Ersatz für Friedemann Vogel.“ Die zweite Besetzung eines internationalen Stars zu sein, übertraf alle Erwartungen. Bald kam es noch besser: Nach seiner dritten Solo-Darbietung in Natalia Makarovas „Das Königreich der Schatten“ teilte der neue Ballettchef dem neuen Tänzer mit, dass er von nun an Solist sei.

„Ballett gehört für mich zum Wichtigsten in meinem Leben“, bricht es aus dem Argentinier heraus. „Nicht, weil es meine Passion ist, sondern weil es mein Leben gerettet hat.“ Seine Stimme wird dringlich, er sucht Augenkontakt. „Es war meine einzige Chance.“ Damit man ihn recht verstehe: Es sei schön und gut, einen Vertrag zu haben, Geld zu verdienen, beachtet zu sein oder berühmt zu werden. „Ich tanze aber, um eine Zukunft zu haben! Um lebendig und glücklich zu sein.“

Glück. Das fand der kleine Ciro Ernesto nicht vor der Tür. In dem Viertel, in dem er mit seiner alleinerziehenden Mutter und seinem kaum älteren Bruder aufwuchs, gab es Bandenkriminalität und Drogenhandel. Die Wirtschaftskrise 2001 verschärfte die Lage. „Meine Kindheit war nicht leicht, aber glücklich. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir mit einem Ball aus Socken und Lumpen Fußball spielten.“ Die Hälfte seiner Spielgefährten von damals sei tot. „Der Rest lebt von Sozialleistungen.“

Dass sein Leben anders verlief, verdanke er zwei Frauen. Seiner Großmutter, die ihren Enkeln ein Haus kaufte, und seiner Mutter, die ihre Söhne auf eine musische Schule schickte, sie an Kunst und Kultur heranführte. „Sie versorgte uns mit guter Musik, Literatur- und Geschichtsbüchern, bildete damit eine Art Schutzraum um uns.“ Fußball, Basketball, immer in Aktion – Ciro Ernesto war ein so energiegeladenes Kind, dass ein Bekannter riet: „Vielleicht lernt der Junge sein Feuer im Ballettunterricht zu zügeln.“ Die Mutter hielt das für einen Witz. Doch als ihr Jüngster das erste Mal aus dem Ballettstudio von Susana Gómez heimkehrte, hatte er schon sein Herz an den Tanz verloren. „Das will ich machen: Immer!“, erfuhr sie von ihrem Zehnjährigen.

An seiner Schule konnte Ernesto vormittags bei seiner Ballettlehrerin trainieren. Nachmittags unterrichtete sie ihn kostenlos in ihrem Studio. „Ich tanzte den ganzen Tag und war glücklich. Es lenkte mich ab von all den Gefahren um mich herum.“ Tanzwettbewerbe nutzte er als Gelegenheit, sein Können zu prüfen und Stipendien zu gewinnen. Bei Danzamérica holte er als 13-Jähriger Gold, zwei Jahre später Silber. Als Teenager zog er dank eines Stipendiums nach Buenos Aires, wo ihn Argentiniens Ballettstar Julio Bocca während des Trainings entdeckte. Am liebsten hätte er das Talent gleich mit nach Uruguay genommen, dessen Nationalballett er damals leitete.

Doch Mansilla setzte seine Ausbildung an der Ballettschule des Teatro Colón fort und tanzte gleichzeitig beim Metropolitan Ballet. „Eine kleine, von Solisten gegründete Kompanie, die zwei Jahre lang jeden Sonntag ,Nussknacker‘ aufführte und Abende mit Kurzchoreografien zeigte.“ Weil er von der Gage nicht leben konnte, parkte er nachts die Autos von wohlhabenden Restaurant-Gästen im Stadtzentrum um. „Autoballett“, sagt er lächelnd. Wenig Schlaf, harte Zeiten! Sie hätten ihn stark gemacht.

Ciro Ernesto Mansilla hat in Stuttgart Großes vor. Gerade studiert er die männliche Hauptrolle in John Neumeiers „Kameliendame“ ein, auch beim Ballettabend „Aufbruch“ ist er zu erleben. Neben dem Tanzen möchte er choreografieren: „Meisterwerke“, sagt er zielstrebig. Nach dem Training und den Proben spielt er Gitarre oder vertieft sich in Fachbücher über Körperbau und Mimik. So bereitet er sich schon jetzt darauf vor, all das, was er erfahren hat und noch lernen wird, einmal an junge Tänzer weiterzugeben.