Die Zeit ist nicht spurlos an ihnen vorbei gegangen - an ihrer Musik schon: Bassist Roger Glover (links) und Sänger Ian Gillan. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Die Zeiten, in denen Blitze einschlugen, wenn sich Gillan und Blackmore zu nahe kamen, sind Geschichte. Die Band ist nach wie vor eine Überwältigung, die mit metronomischer Präzision reüssiert.

Von Ingo Weiß

Stuttgart - War’s das jetzt? War das der Schlusspunkt? Das allerletzte Stuttgart-Konzert von Deep Purple? Die Tour heißt schließlich „The Long Goodbye“, das dazugehörige Album „InFinite“ (zu deutsch „unendlich“, aber man beachte die Wortspielerei „finite“) und die Herren um Sänger Ian Gillan und Bassist Roger Glover, beide bald 72, gehen auch auf die 70 zu. Ganz schön alte Knacker also mittlerweile. Die Schleyerhalle ist gut voll, vielleicht genau deshalb. Weil viele der 7500 Fans sich denken: bevor es zu spät ist. Ohne Zweifel: Die Hard-Rocker aus England, 1968 gegründet und bereits Anfang der siebziger Jahre ein unverrückbarer Eckstein der Rockgeschichte, sind sichtbar grau geworden. Das bewegte Leben hat tiefe Furchen in ihre Gesichter gezogen. Fast wie in Stein gemeißelt, wie auf dem berühmt-spektakulären Cover ihres Meilenstein-Albums „In Rock“ von 1970, das sie neu arrangiert, in einen Eisberg montiert und als Bühnenhintergrund aufgehängt haben.

In Schuhen, nicht mehr barfüßig, grauhaarig kurz statt langmähnig schwarz steht Ian Gillan da. Die Inkarnation des Rock-Sängers, ein Biedermann? Und nicht mehr der Brandstifter, der er war, seit er 1970 „Jesus Christ Superstar“ sang? Seine Motorik hat stark nachgelassen, er wirkt im Gegensatz zu Glover reichlich ungelenk. Aber seine Stimme ist nach leichten Auftaktproblemen noch immer faszinierend stark. Auch wenn er nicht mehr die ekstatischten Schreie ins Rockuniversum jubiliert, sich immer wieder ein Pause hinter den Kulissen gönnt und so manchen Song in tiefere Tonlagen transponiert, kommt sein Organ schön gereift, kernig und packend daher.

Einst schrie und heulte Gillan gegen Jon Lords Orgel und Ritchie Blackmores Gitarre an, heute gegen die „Hammond“ von Don Airey (68) und die Gitarre von Steve Morse (63). Die beiden sind mittlerweile die Virtuosen in der Band, das zeigen sie auch in unnachahmlichen Duellen, ohne dabei in musikalische Selbstverliebtheiten zu verfallen. Aireys Intro zu „Lazy“ ist, wie der gesamte Song, brillant und einer der Konzert-Höhepunkte, ebenso wie wenig später sein Keyboard-Solo. Dieses ist eine beeindruckende, bombastische Soundcollage, eine fulminante Rhapsody in Purple. Airey hat sich endgültig aus dem Schatten von Ikone Lord befreit.Auch Morse drischt unfassbare Riffs, wechselt leichthändig die Tonarten, glänzt kaskadierend auch in ruhigeren Passagen. Mit wehender, blond-grauer Mähne und im obligatorischen Muscle-Shirt lässt er, der zu den technisch versiertesten Rock-Gitarristen zählt, die Saiten beben. Auch er ist ein Teamplayer, der sich stets in den Dienst der Sache stellt.

Das gilt erst recht für Ian Paice (68), das letzte verbliebene Gründungsmitglied, der vor einem Jahr nach einem leichten Schlaganfall das erste Mal Purple-Konzerte absagen musste. Sonnenbebrillt und mit lässig-filigranem Trommeldonner ist er weiterhin das stoisch in sich ruhende Kraftwerk der Band. Zusammen mit Glover, der als heimlicher Chef im Ring fungiert und sein pumpendes Bassspiel im Alter eher noch verbessert hat.

Was der bescheiden auftretenden, uneitlen Gruppe allerdings mehr denn je fehlt: Die Unberechenbarkeit und der Wahnsinn, die Blackmore als Musiker und Mensch mitbrachte (und die Band an den Rand des Nervenzusammenbruchs brachte) sowie die Genialität von Lord. Deep Purple sind im Herbst des Bandlebens ohne die beiden zwar die bessere, gleichzeitig aber auch eine bravere Formation. Die Zeiten - wie 1993 in der Schleyer-Halle zu bestaunen -, als regelrecht Blitze einschlugen, wenn sich beispielsweise Gillan und Blackmore auf der Bühne zu nahe kamen, sind längst Geschichte. Im Hier und Heute klingen die Herren einfach furios entspannt.

Mit der Setliste allerdings beweisen sie noch immer Mut zum Risiko. Nicht mit „Highway Star“ wie seit Jahrzehnten üblich, eröffnet Gillan die Show, sondern mit „Time for Bedlam“ aus „Infinite“. Mit liturgisch anmutendem Singsang führt er in die mit der Narrenkappe getarnte, doch düstere Polemik gegen Apathie und Unmündigkeit in Zeiten der Knechtung des Individuums ein. Fortan baut das Quintett das Publikum mit Erwartetem und einigem Unerwartetem auf. Von „Infinite“, einem durchaus überraschend kraftvollen, vitalen Spätwerk der Legende, folgen noch drei weitere Titel: Das fast im Pop angesiedelte „Johnny’s Band“, Gillans Lieblingsstück des Albums, das kunstrockig-epische „The Surprising“ und das düstere „Birds of Prey“. Vom vorletzten, aber weitaus famoseren Werk „Now What?!“ (2013) spielen sie zwei Stücke: das als wuchtige Rockoper angelegte „Uncommon Man“ und das mit Metal flirtende „Hell to Pay“. All’ diese Songs sind solide, gute Deep Purple-Kost, aber Hymnen zum Abfeiern wie „Highway Star“ sind nicht darunter.

Letztere spielen sie gar nicht. Genauso wenig wie „Speed King“ oder „Woman from Tokyo“. Das machen sie freilich wett mit Klassikern wie „Fireball“, „Bloodsucker“ und „Strange Kind of Woman“, die sie nahtlos ineinander übergehend zu Beginn abfeuern. Hier begeistern Deep Purple mit Riffkultur, Spielwitz und energetischer Kreativität und verlieren sich nicht in endlosen Solis wie früher. Die Mischung aus Hardrock und Progressive Rock ist betörend. Einzig der Sound ist zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht glanzvoll-transparent.

Fast vor Ehrfurcht erstarrt genießen die Fans aufsaugend jeden Song. „Perfect Strangers“ und „Space Truckin“ haben ihre Kraft bewahrt und die Grau gewordenen Pioniere ihren Unternehmergeist. Am Ende werden sie natürlich gemeinsam zu Brandstiftern, fackeln mittels „Smoke on the Water“ nicht nur das Casino von Montreux auf der großen LED-Leinwand ab, sondern sinnbildlich fast die Arena. Selbst diesen scheinbar totgenudelten Song spielen sie mit einer Leidenschaft, die Respekt zollt.

Die Band ist nach wie vor ein Wahnsinn und eine Überwältigung, die mit metronomischer Präzision, kumpelhafter Interaktion und frappierender Instrumentalität reüssiert. Auch die Zugaben „Hush“ von 1968 und „Black Night“ von 1970 strotzen nur so vor Vielfältigkeit und Virtuosität, vor Wucht und Groove, und lassen Heerscharen von Epigonen bei Lichte betrachtet im Regen stehen. Es ist ein würdiges Finale eines mehr als hundert Minuten langen und wunderbar hart rockenden Konzertgenusses.

War’s das jetzt? Die unvergleichliche Band hat alles dafür getan, dass erst gar keine Wehmut aufkam. Im Gegenteil: Wenn die Jungs nicht schon älter wären, hätte man glauben können, eine neue Sonne ginge am Rock-Firmament auf. Deep Purple sind ein Naturereignis und zu recht weigern sie sich, nur die Verweser ihrer glorreichen Vergangenheit zu sein. Der Schwanengesang jedenfalls muss verschoben werden. Nicht bei diesem Biss, dieser Spielfreude, dieser Rasanz und Perfektion, die Deep Purple weiterhin an den Tag legen.