Von Elisabeth Maier

Stuttgart -Am Spieltisch entscheidet sich das Schicksal des Kontinents. Die Regisseurin Tanja Krone dringt in ihrem „European House of Gambling“ jedenfalls weit zu den Wurzeln der ökonomischen Krise vor, die längst alle Lebensbereiche erfasst hat. Auf dem Stuttgarter Marienplatz lädt sie das Publikum noch bis einschließlich Sonntag zu einem Projekt ein, das den egoistischen Zocker in jedem herauskitzelt. Die Performer binden das Publikum in ihr faszinierendes Spiel um (Spiel-)Geld und um Macht ein. Wer den Zirkus rund in der Platzmitte betritt, bekommt Schlüssel als Startkapital. Wie viele das sind, entscheiden Würfel. Sein Startkapital kann der Spieler vermehren oder verlieren. Und steht am Ende vielleicht nackt und bloß vor dem Glücksrad da. Der totale soziale Abstieg ist ein Phänomen, das in Zeiten von Bankenkrisen und Masseninsolvenzen alles andere als weit hergeholt ist.

Mit dem starken Stadtraum-Projekt geht das Stuttgarter Theater Rampe mitten in die Südstadt. Allerdings ist das Casino durch Zeitplanen und Holzzäune vom pulsierenden Leben auf dem belebten Platz getrennt. Da liegt die Crux des faszinierenden Performance-Projekts, das die Zuschauer zu Mitspielern und -denkern macht. Denn viele Zaungäste bleiben hinter der Bezahlschranke. Dabei hätte Krones faszinierendes Spiel in der menschlichen Hölle noch viel mehr Publikum verdient. Die Kuratorin und Regisseurin hat vor zwei Jahren in Stuttgart den „Vagabundenkongress“ wieder auferstehen lassen, der an Pfingsten 1929 in Stuttgart stattfand. Schon in diesem Projekt mit Künstlern und Wissenschaftlern bewies die europaweit bestens vernetzte Performerin ein gutes Gespür für die Stadt und ihre Menschen. Das zeigt sich auch jetzt wieder.

Nun packt sie mit dem Theater Rampe, das 2018 die „Stadt am Fluss“ auf dem Esslinger Marktplatz verantwortet, die Schwaben an ihrer individuellen Spiellust. Erst mal darf jeder an den Tischen bis zur Erschöpfung zocken - am Tarot-und Roulette-Tisch gibt es zu einer Weissagung über die Zukunft der großen Liebe gleich noch 22 Schlüssel als Hauptgewinn dazu. Unaufhörlich fallen die Würfel. Und die Lust am Spiel treibt die Besucher des Casinos immer tiefer in einen berauschenden Taumel hinein.

In das flirrende Vergnügen des Glücksspiels mischt sich bitterer Ernst, als sich die Tänzerin und Choreografin Dragana Bulut und der amerikanische Performer Davis Freeman ein brutales Show-Duell liefern. Das Publikum darf Wetten abgeben und Schlüssel verspielen oder gewinnen. Angesichts der brutalen Stunts der zwei Vollprofis wirkt das fast zynisch. Momente wie diese setzt Krone klug ein, dosiert Lachen und Entsetzen ganz genau. Ästhetisch ist das Projekt ein Erlebnis.

Das Glücksspiel als Hebel des sozialen Ausgleichs in einer demokratischen Gesellschaft? Darüber hat der Soziologe Thomas Wagner geschrieben, der auch in das Projekt eingebunden war. Sein Aufsatz „Casino Egalite“ aus dem Jahr 1998 hat Krone und ihr bemerkenswertes Künstlerkollektiv zu dem Projekt inspiriert, das den schmalen Grat zwischen purem Vergnügen und soziologischer Reflexion virtuos meistert.

Am Rande der Spieltische entspinnen sich immer wieder angeregte Gespräche mit Experten - neben dem Soziologen Wagner unter anderem mit einem Casinobetreiber und einem Poker-Champion. Das ungewöhnliche Format, das auch in Berlin und Belgrad zu sehen sein wird, stellt Europas Wohlstandsgläubigkeit auf die Probe. Das Konzept des Theaters Rampe, Autorenschaft neu zu definieren, ist Krone und ihrem internationalen Künstlerkollektiv schön geglückt.

Weitere Vorstellungen finden täglich bis kommenden Sonntag, 16. Juli, statt. Beginn ist jeweils um 18 Uhr.

www.theaterrampe.de