Aktuell ohne Aktualisierungsholzhammer: Markus Bartls Inszenierung von Ionescos „Nashörnern“. Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Eine starke Saison mit sehr wenigen Schwächen: An der Esslinger Landesbühne (WLB) geht das Konzept des Intendanten Friedrich Schirmer und seines künftigen Co-Intendanten Marcus Grube voll auf – zeitkritisch und dank des exzellenten Ensembles auf hohem künstlerischen Niveau.

EsslingenJe länger Friedrich Schirmers zweite Esslinger Intendanz währt – künftig ist es eine Co-Intendanz mit Marcus Grube – , desto klarer treten die künstlerischen Resultate der konzeptionellen Linie hervor. An der Esslinger Landesbühne (WLB) geht es – abstrakt gesagt – um eine theatralische Seismographie der Zeitgeschichte. Bevorzugt standen in der Spielzeit 2018/19 bekannte oder weniger bekannte Texte des 20. Jahrhunderts auf dem Programm, theatertaugliche Aufzeichnungen der großen und katastrophalen Beben der jüngeren Vergangenheit. Die Frage, die sich jede der Inszenierungen stellt, gilt den Erschütterungswellen, die vom historischen Epizentrum in die Gegenwart ausstrahlen. Die Antwort ist keine rückblickende Dokufiktion, sondern ein Befund: Die Nachbeben werden erkennbar als mögliche Vorbeben; nicht als Gewissheit – Theater ist schließlich kein Wahrsagertempel –, wohl aber als Zeichen denkbarer Entwicklungen, die vielleicht bald nicht mehr nur denkbar, sondern verheerende Realität sind. So blitzt aus der „Besichtigung“ des jüngstvergangenen Jahrhunderts eine beunruhigende Aktualität hervor – für eine Jetztzeit der politischen Unwägbarkeit, der gesellschaftlichen Zersplitterung, der Rückkehr der niederträchtigsten Ressentiments, die überwunden geglaubt zu haben sich nun als Illusion entpuppt.

Denken sollen die Leute selber

Die Frage an die beendete WLB-Spielzeit ist, ob die Aktualitätsrechnung aufging. Antwort: Ja, das tat sie – und zwar gerade deshalb, weil sie dem Publikum nicht mit dem Aktualisierungsholzhammer übergebraten wurde. Denken sollen die Leute schon selber. Was allzu plakativ eingetrichtert wird, sabotiert die eigene Botschaft. So hat gleich zu Beginn der Saison Markus Bartl die „Nashörner“ von Eugène Ionesco – einen Text aus den späten 50er-Jahren – als beklemmende Populismus-Parabel inszeniert, ohne dem sich in aggressionsdumpf gehörnte Panzertiere verwandelnden Stückpersonal explizit die lange Nase von AfD-Pinocchios zu drehen. Solcher Verzicht auf eindimensionale Verkleinerung stärkt die stimmige Wirkung: eine Transferleistung, keine platte Lektion.

Erfreulich ist, dass das Publikum mitzieht. Den Besucherrekord der Spielzeit 2017/18 mit 122 343 Zuschauern in Esslingen und den Gastspielorten wird die vergangene Saison wohl nicht einholen (die exakten Daten liegen erst im September vor), setzt er doch angesichts der hohen Vorstellungszahl einen Kraftakt der gesamten Truppe voraus, der nicht beliebig wiederholbar ist. Insgesamt aber befinden sich die Zuschauerzahlen der WLB im Steigflug – keineswegs selbstverständlich für eine Schauspielbühne, zumal der Spielplan nun wirklich keine leichte Kost ist, auch wenn die Inszenierungen schwer verdauliche Experimente meiden. Klar, ganz ohne Zuckerwatte geht’s trotzdem nicht, „Struwwelpeter – Shockheaded Peter“ war die erfolgreichste Produktion im Abendspielplan. Ungleich witziger übrigens Markus Bartls geniale Podium-Inszenierung „Faust I – Reloaded“, die den Klassiker gnadenlos zur Comedy erklärt: wahrlich keine Lektürehilfe für den Deutschunterricht, sondern eine durchgeknallte Impro-Show mit radikal albernen Pointen, die wie zündende Trash-Blitze durch hehre Deutungswolken fahren; und nebenbei Appetit aufs Original machen.

Was zu Beginn die „Nashörner“ vollbrachten, wurde konsequent weitergeführt mit John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ oder Ödön von Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“. Beide Stücke entstanden im Bann der Großen Depression, der katastrophalen Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre mit ihren noch katastrophaleren nazi-deutschen Folgen. Bei Steinbeck geht der Regisseur Jürgen Esser ganz nah heran an die Figuren, ihre Träume und Traumen – und solcher Lupenblick garantiert zugleich die Sichtbarkeit der Prekarisierten und Ausgegrenzten von heute. In Alexander Müller-Elmaus Horváth-Inszenierung wirft die Krise von einst ihre Schatten auf eine zeitlos-heutige und zukünftige Überwachungshermetik, deren Teil die löchrigen Sozialsysteme sind. Das Unglück des Bürokratieopfers Elisabeth ist in dieser Sphäre der Entmenschlichung und Entsolidarisierung eine tödliche Wiederkehr des Immergleichen: ein bedrückender Befund für die Gegenwart und ihre nächsten Aussichten.

Keine trügerischen Parallelen

Die Inszenierungen zweier Stoffe über die nationalsozialistischen Verbrechen vermeiden trügerische Parallelen im Sinne billig aufgewärmter Faschismus-Vorwürfe, und doch treffen sie ins Mark sehr gegenwärtiger Vorgänge. Der Regisseur Christof Küster richtet in Abby Manns „Das Urteil von Nürnberg“ einen klugen, scharfen Fokus auf die Justiz als Prostituierte der Macht – und beleuchtet damit auch die höchst aktuellen Versuche einer Entmachtung der unabhängigen Justiz durch die Populisten dies- und jenseits des Atlantiks. In Oliver Storz’ „Die barmherzigen Leut von Martinsried“ arbeitet Marcus Grube als Regisseur heraus, wie kollektive Schuld entsteht: durch feig verweigerte Hilfeleistung, durch Ausschalten derer, die hilfsbereit wären. Man denkt an Bootsflüchtlinge im Mittelmeer und die Kriminalisierung ihrer Retter.

Laura Tetzlaff inszenierte die Prof-undProll-Lovestory „Educating Rita“ als Emanzipationsgeschichte – so komödiantisch wie Hans Ulrich Beckers Regie in Kleists „Zerbrochnem Krug“, die im Klassiker ein Schaustück über Stadt-Land-Konflikte, Werte- und Kulturgegensätze, systemische Korruption mit Bauernopfer fulminant krachen ließ. Auch was nicht direkt auf der roten Spielplanlinie lag, hatte zeitkritische Kenntlichkeit – bis hin zu Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ als Freilichtstück in Christof Küsters Inszenierung.

Bei all den theatralischen Bezügen zu sozialen und globalen Krisen zeigt sich das WLB-Ensemble nicht nur erstaunlich krisenresistent, sondern überragend in seiner kontinuierlichen Entwicklung: Da gibt es fast keine vergeigten Besetzungen, dafür viele darstellerische Preziosen bis in die Nebenrollen. Mit „Backbeat“ über die Beatles in Hamburg – eine Koproduktion mit Marco Süß’ großartiger Junger WLB – bereitete das Ensemble sich und dem Publikum dann noch ein musikalisches Nostalgie-Vergnügen. Und als Kollateralbonus liefert Marcel Kellers Inszenierung eine Dosis Rock- und Zeitgeschichte mit.

Eine Spielzeit also mit wenigen Schwächen und vielen Stärken. Und vor allem verdanken sich die Stärken keinem Zufallsglück, sondern einer künstlerischen und dramaturgischen Konsequenz, die mit markantem Spielplanprofil und großem schauspielerischem Potenzial ein besonderes Kunststück vollbringt: Der Blick in den Rückspiegel ist gleichzeitig einer durch die Frontscheibe. Dort sieht man übrigens in der kommenden Spielzeit vermehrt auch neue Stücke.