Eine rder größten Erfolge der Ära Anderson: die Uraufführung von Christian Spucks „Lulu“ Foto: Stuttgarter Ballett - Stuttgarter Ballett

Ballettintendant Reid Anderson war ein Glücksfall für Stuttgart

StuttgartSeine tollen Auslastungszahlen machten Politiker glücklich, aber die vielen, vielen wunderbaren Aufführungen die Stuttgarter Zuschauer. 22 erfüllte Jahre lang sorgte Reid Anderson beim Stuttgarter Ballett für volle Häuser, für ein großartiges Ensemble außergewöhnlicher Tänzer, für spannende Neuentdeckungen, für ein reiches und ausgewogenes Repertoire vom alten Spitzentanz über die Klassiker der Moderne bis zur Avantgarde. Der scheidende Ballettintendant, der als junger Tänzer aus Kanada zu John Crankos Kompanie stieß und mit ihr das große Ballettwunder der 70er Jahre erlebte, verabschiedet sich mit einer wahrhaft beeindruckenden Bilanz.

Das Stuttgarter Ballett nimmt seine Tradition mit in die Zukunft. Andersons Spielplan lebte immer aus der Geschichte der Kompanie, vergaß nie die zahlreichen wichtigen Choreografen, die hier gearbeitet haben und groß geworden sind. Und er fügte den berühmten Namen, die in den Ballettgeschichtsbüchern mit dem Namen Stuttgart verbunden sind, noch ein paar weitere hinzu. Gerade bei den neuen Werken gab Anderson seinen Choreografen sehr viel Spielraum; das machen andere auch, und doch klappt es hier in Stuttgart einfach viel besser – irgendein Zauberstaub liegt schon über dieser Tanzstadt, möchte man manchmal meinen, wenn ein Christian Spuck hier begann, die dunkleren Dramen der deutschen Literatur für die Ballettbühne zu entdecken; wenn ein Marco Goecke hier zu seinem einzigartigen Flatterstil fand (den er nicht gleich von Anfang an hatte); wenn Demis Volpi zu einem ungewöhnlichen Thema wie „Krabat“ griff und ein Erfolgsstück daraus machte.

Zu all den Entdeckungen, und es waren noch viel, viel mehr Künstler als die drei Hauschoreografen, bekamen wir ein größeres Repertoire zu sehen als je vorher: Die wichtigen Neoklassiker wie George Balanchine und Jerome Robbins, die modernen Holländer, eine breite, umfassende Auswahl der Weltliteratur des klassischen und modernen Balletts. Manchen war es zuweilen zu klassisch und anderen viel zu modern, aber Anderson fand eigentlich immer die richtige Mischung; stets war auch ein Familienstück dabei, immer etwas für die Ballettanfänger. Sorgfältig erweiterte der Intendant den Horizont seines ohnehin sehr guten, gebildeten Ballettpublikums.

Blick für die Interpreten

Vielleicht noch höher zu schätzen ist Andersons Blick für die Interpreten, die Tänzer – was für eine Freude muss es auch ihm selbst gemacht haben, diese vielen jungen Leute aufzubauen und groß herauszubringen, ihnen die passenden Rollen zu geben, selbst die arrivierten Solisten immer wieder vor neue Herausforderungen zu stellen und ihren künstlerischen Horizont zu erweitern. Glücklich, geradezu exemplarisch verliefen die Karrieren eines Friedemann Vogel, eines Jason Reilly oder Marijn Rademaker – ja, bei männlichen Tänzern war Andersons Blick immer noch ein wenig schärfer als bei den Ballerinen, wo er zuletzt Elisa Badenes zum Star machte. Immer wieder, viel öfter als es seine Kollegen tun, warf Anderson junge Tänzer aus dem Corps de ballet in die Hauptrollen einer Premiere – genau wie bei den Choreografen hatte er ein unglaubliches Gespür dafür, bei wem es sich lohnt, Vertrauen zu investieren; ein Gespür auch, bei all seinem Sinn für die perfekte Optik eines Tänzers, für ungewöhnliche, ein wenig andere Persönlichkeiten.

Eine Zeit lang traten sich seine vielen Entdeckungen fast auf die Füße, heute tanzen sie auf der halben Welt: Berlin, München, Zürich, Toronto oder Amsterdam hat Anderson mit Ersten Solisten versorgt – und hatte doch zuhause immer neue im Köcher, die er hervorzaubern konnte.

Wie viele solcher magischer Schlüsselmomente von großen Karrieren konnte man als Zuschauer in den 22 Jahren erleben: Robert Tewsley in „Le Sacre du Printemps“, Alicia Amatriain in „Lulu“, Marijn Rademaker in der „Kameliendame“, Friedemann Vogel in „Orlando“, William Moore, Elisa Badenes oder Daniel Camargo, um nur die spannendsten zu nennen. Seine Tänzer liebten Reid Anderson, das war allein an der Energie zu spüren, mit der sie in jeder einzelnen Aufführung ihr Bestes gaben. Was es in den 22 Jahren nie gab, war Routine oder tanzende Beamte: Noch die dritte, vierte Besetzung war sorgfältig einstudiert und brachte ihre eigene Interpretation mit, noch die letzte Aufführung in einer Vorstellungsserie sprühte nur so vor Leben – die Energie sprang über.

Noch auf eine andere Weise hat Anderson die Tanzstadt Stuttgart enorm beeinflusst: Ohne ihn wäre Eric Gauthier nicht hier. Mit seinem Instinkt für außergewöhnliche Persönlichkeiten importierte der ältere Kanadier seinen 17-jährigen Landsmann aus der Ballettschule in Toronto, nur um später als Kompaniechef zum deutlichen Vorbild für den Wirbelwind im Theaterhaus zu werden. Jetzt hat Stuttgart zwei renommierte Kompanien, ein neues Tanzfestival und mehr Tanzaufführungen als je zuvor – Tendenz weiter steigend. Die neue John-Cranko-Schule, für deren Bau sich Anderson so geduldig und penetrant eingesetzt hatte, wird die Bedeutung Stuttgarts als Tanzzentrum zusätzlich zementieren. Die Grundlage hat John Cranko bereitet, aber Andersons Mitwirken an diesem Ruf, in idealer Nachfolge auf Marcia Haydée, kann man nicht hoch genug schätzen.

Pflege des Cranko-Erbes

Was hat er falsch gemacht? Vielleicht gab es zu wenig von dem, was man heute Tanztheater nennt, zu wenig Crossover zum Sprechtheater. Vielleicht ging Anderson in den letzten zwei Jahren ein klein wenig die Luft aus, vielleicht ließ er seine jungen Tänzer zu schnell groß werden, sie hielten sich für unbesiegbar und verließen das vermeintlich kleine Stuttgart. Vielleicht wurde im Lauf der zwei Jahrzehnte zu viel Cranko gezeigt, wobei die Zuschauerzahlen dem Intendanten recht gaben und die Tänzer genau wegen dieser Rollen in Stuttgart sind. Das Cranko-Erbe aber wurde subtil bis in die Einzelheiten gepflegt, was natürlich auch den zahlreichen Ballettmeistern wie Georgette Tsinguirides zu verdanken ist.

Reid Anderson hat nicht nur die Werke bewahrt, auf denen der Ruhm des Stuttgarter Balletts gründet, sondern vor allem John Crankos Idee einer Ballettkompanie von Tanzschauspielern, einer stets der Zukunft zugewandten, neugierigen Kompanie. Seit fast 60 Jahren lebt das Stuttgarter Ballett nach diesem Gedanken und folgt einer, seiner Tradition. Das gelingt in einer Zeit wie der heutigen nur wenigen, nur den großen Ballettkompanien.