Ragnar Kjartanssons Rauminstallation „Death is Elsewhere“ im Kunstmuseum. Foto: Courtesy Ragnar Kjartansson, Lu - Courtesy Ragnar Kjartansson, Luhring Augustine, New York und i8 Gallery Reykjavik

Ragnar Kjartansson ist Isländer – und er enttäuscht die Erwartungen an die Abgründe des Nordens nicht. Tieftraurig, verwirrend und voller Lebenslust entführt der Tausendsassa im Kunstmuseum Stuttgart in eine Bildwelt von großer Erzählkraft.

StuttgartDie ersten Klänge locken – jedoch: wohin eigentlich? Aber noch bevor man dies klären kann, hat Ragnar Kjartansson schon das erste Mal zugeschlagen. Es darf gespuckt werden – und das ausgerechnet von Mutter und Sohn. Mit der im Jahr 2000 gestarteten Videoserie „Me and my Mother“ beginnt die Ausstellung „Scheize – Liebe – Sehnsucht“ von Ragnar Kjartansson im Kunstmuseum Stuttgart. Verstörend. Ironisch. Und doch bestimmt von tiefer Zugewandtheit.

Der produktive Widerspruch bleibt, bestimmt für die nächsten Wochen und Monate das Geschehen auf den drei Stockwerken des Kunstmuseum-Kubus. Ein Spielmann ist zu Gast. Einer, der Geschichten erzählt und erzählen lässt. Einer, der seine Zitate nicht verbirgt, einer, dem vordergründig nichts heilig ist – und der doch in nahezu heiligem Ernst die Kraft der Liebe beschwört.

Die ersten Klänge? Sie locken weiter – in einen Theaterraum, in einen Ballroom, einen Club. Schmalzgeglättet singt Kjartansson „Sorrow conquers happiness“ („Der Kummer überwindet das Glück“). Wieder und immer wieder. Scheinbar gleich und doch immer wieder anders.

Schon hier ist die gewohnte Wegeführung auf den Kubus-Etagen aufgehoben. Für Kjartansson gibt es Sackgassen, überraschend Abzweigungen, Engstellen. Und es schneit. Regungslos liegt eine Frau im zentralen Oberlichtsaal. Blut sickert noch aus ihrem Körper, kündet von einer Katastrophe. Lautlos rieselt über zwei Stockwerke Kunstschnee auf die Frau herab. Doch da liegt keine Puppe, hier liegt ein Mensch auf dem Museumsboden.

„Tod einer Dame“ ist die Live-Performance betitelt – und Hinweise auf Puschkins „Eugen Onegin“ (durch John Cranko untrennbar mit dem Stuttgarter Ballett verbunden) und Stephen Frears Film „Gefährliche Liebschaften“ darf man zur Kenntnis, aber doch nicht zu ernst nehmen. Kjartansson hört, sieht, benützt – und scheint zuletzt selbst das Ergebnis zu bestaunen. 1976 in Reykjavík geboren, studiert er dort von 1997 bis 2001 auch. Es sind die Jahre, in denen die Sängerin Björk die letzten Grenzen zwischen Kunst und Pop aufhebt. Es sind die Jahre, in denen das Wort „Island“ ausreicht, um für ein vorgeblich wissendes Raunen zu sorgen.

Wie reagiert man darauf? Darf man das Lied von der ewig unmöglichen und deshalb nie zu erreichenden Liebe überhaupt (weiter) in Bildern, Texten und Noten singen? Kjartansson fragt nicht lange, er greift zu, nimmt fortlaufend Bezug – vor allem, wie in „Scenes From Western Culture“, zur Filmgeschichte seit 1950 – und macht den Zugriff über das Mittel der Wiederholung gleichermaßen zur hypnotischen Verführung wie zur Zumutung. Tritt Kjartansson 2007 in „God“ noch selbst auf, um in der Gestalt eines schmachtenden Sängers mit großem Orchester wieder und wieder die Zeile „Sorrow conquers happiness“ zu intonieren, holt er sich 2013 die New Yorker Independent-Band The National auf die Bühne des Moma-Gegenwartsforums P.S.1. Sechs Stunden spielt die Band, deren Songs schon die Kampagne von Barack Obama im US-amerikanischen Präsidentenwahlkampf begleitet haben, ein einziges Lied: „Sorrow“. Es ist eine Performance – und Kjartansson macht daraus die Videoarbeit „A Lot of Sorrow“.

Im zweiten Kubus-Geschoss des Kunstmuseums, jetzt singulär zu erleben, entfaltet die Szenerie ihre ganze Magie. Allein für „A Lot of Sorrow“ lohnt der Weg zu Kjartansson – und da hat man die als Hauptwerk geltende Installation „The Visitors“ mit neun großformatigen Projektionen im ersten Kubus-Geschoss noch gar nicht erlebt. In der Badewanne liegend, gibt Ragnar Kjartansson auf einer Akustik-Gitarre acht Musikern den Impuls zu einem nur scheinbar wortlosen 64-minütigen Dialog.

Ist dies zu viel des musikalisch Guten? So ganz scheinen Kunstmuseum-Direktorin Ulrike Groos, Carolin Wurzbacher und Anne-Kathrin Segler als Verantwortliche für den Kjartansson-Auftritt dem Performer und Regisseur nicht zu trauen. Oder umgekehrt: In Stuttgart ist die ganze Spannbreite des Tausendsassas zu erleben. Der Zeichner, ein Maler zudem, der einerseits in der vordergründig nur notizenhaften Skizzierung israelischen Wohnungsbaus im Westjordanland das politische Gewicht von Architektur befragt und sich andererseits der Gewalt der Minusgrade im isländischen Winter aussetzt.

Fast traditionell schon für die Ausstellungen zur internationalen Gegenwartskunst im Kunstmuseum Stuttgart ist das dritte Obergeschoss einem neuen Werk, einer buchstäblich umfassenden Rauminstallation, vorbehalten. In „Death is Elsewhere“ bewegen sich zwei Paare durch eine weite isländische Landschaft. Wieder ist die Band The National – am 5. Dezember in der Porsche-Arena in Stuttgart zu erleben – mit von der Landpartie: Die Brüder Bryce und Aaron Dessner spielen jeweils Gitarre. Den traurig-schönen Gesang bestimmen die Stimmen der Schwestern Anna und Gyda Valtýsdóttir.

„Scheize - Liebe - Sehnsucht“ hat Kjartansson als Titel seiner Schau im Kunstmuseum gewählt. Der Zufall schafft Bezüge – in die Wesensgeschichte, in die Kunstgeschichte. Beim Verlassen der Ausstellung von Kjartansson hat man dann noch einmal dessen „Sorrow conquers happiness“ im Ohr. Und denkt widersinnig: Von diesem „Kummer“ hätte man gerne noch mehr.