Foto: Regina Brocke - Regina Brocke

Wie Frauen lieben, dressieren und inspirieren: Tanzabend „Grandes Dames“ bei Gauthier Dance im Stuttgarter Theaterhaus.

StuttgartJahrhundertelang regierten sie als Ballerinen auf der Bühne und degradierten die Männer zu Trägern und Stützen ihrer virtuosen Kunst. Nun gibt es, ähnlich wie bei Autorinnen, Komponistinnen oder Regisseurinnen, plötzlich auch im Tanz den Ruf nach mehr Choreografinnen, nach kreativen statt nur ausführenden Frauen. Und so reißen sich sämtliche Tanzkompanien um die wenigen Künstlerinnen der Zunft. Gauthier Dance im Theaterhaus hat immerhin zwei von ihnen erwischt. Die anderen beiden Stücke des verblüffenden Programms „Grandes Dames“ stammen von Männern und sind ersatzweise weiblichen Ikonen des modernen Tanzes gewidmet. In drei der Werke wird gesprochen. Erstaunlich weit stößt Eric Gauthier im elften Jahr seiner Kompanie ins Tanztheater vor und erweitert mit diesem Abend das Spektrum der Tanzstadt Stuttgart um interessante Stile.

Feine Unschuld der Bewegung

Ein gemeinsamer Herzschlag ist die Grundlage für „Beating“, den sanften Einstieg der Kanadierin Virginie Brunelle. Obwohl sie zu Tophits des modernen Tanzes choreografiert, zu oft gehörter Musik von Franz Liszt oder Henryk Gorecki, obwohl ihr weiches, freundliches Bewegungsrepertoire kaum übers moderne Ballett hinausgeht, atmet ihr Stück eine frische Aufrichtigkeit. Ein synchrones Pulsieren vereint immer wieder einzelne Paare oder auch alle acht Tänzer, die uns in ihrer dezenten Alltagskleidung sehr nahe sind. Eine Liebesgeschichte scheint sich heimlich zu entwickeln, Brunelle zeigt, wie der Herzschlag mit dem Sehnen aus dem Takt gerät. Ungekünstelt, ohne intellektuelle Verquastheit oder irgendwelche Gedanken an Dekonstruktion erinnert sich der Tanz hier an die feine Unschuld der Bewegung. Der Unterschied zu „We Love Horses“, das mit lautem Peitschenknallen beginnt, könnte extremer nicht sein: Pferdefuß-artige Stelzen machen aus der Tänzerin Anneleen Dedroog eine unerbittliche Leder-Domina. Fünf halbnackte Opfer schütteln uns ausladende Pferdehintern aus Plastik frontal ins Gesicht, auf ihren Köpfen wippen überlange Zirkusfedern. Mit krassen, höchst eindrücklichen Bildern blendet die Berliner Tanzregisseurin Helena Waldmann Dressurreiten, Sado-Maso und Ballettsaal perfekt übereinander. Der Mensch genießt das Gehorchen, ja sogar das Gequältwerden genauso wie das Befehlen. Gelungener Zirkustrick und Orgasmus fallen in eins. Erst am Ende der heftigen Bilder ertönt ein Schrei, sieht man die Qualen.

Rätselhafte Schönheit

Ein Solo über Angst und Suchen, aber mit einem zuversichtlichen Schluss ist Marco Goeckes „Infant Spirit“, das von der Jugend des Choreografen in Wuppertal erzählt – der Stadt von Pina Bausch, der sein Stück gewidmet ist. Zwei Songs der Gruppe Antony and the Johnsons erzählen von Tränen, vom Fallen und von den Eltern; der Solist im grauen Anzug wird zu einem kleinen Jungen, der fröhlich dahinhüpft, der die zum Fliegen gebreiteten Hände versteckt. In Rosario Guerras empfindsamem Körper sieht man Unsicherheit, Aufbruch, Versteckenwollen und Hinausdrängen aus der Enge. Man sollte Goeckes dichte, oft viel zu schnell vorüberfliegende Bewegungen intensiver lesen, denkt man bei jedem seiner Stücke – und bleibt doch oft in ihrer rätselhaften Schönheit befangen. Halb eleganter Verehrer und halb bunter Clown, heftet sich der Tänzer zum Schluss wie ein Lebensmotto eine blassrosa Nelke ans Revers, als Hommage an die große Pina, die einst ein ganzes Stück auf einer Wiese dieser Blumen tanzen ließ. Auf Goeckes kryptische Art ist das die tiefe künstlerische Verneigung vor dem Lebenswerk der Choreografin, an der es bei der verstrittenen Leitung des Wuppertaler Tanztheaters derzeit mangelt.

Die Tänzerin Louise Lecavalier, der das lichtblitzende „Electric Life“ gewidmet ist, wurde als „kanadischer Tanztorpedo“ mit horizontal gedrehten Schrauben und ihrer wahnwitzigen Attacke zu einer Ikone. Die erste Hälfte des Stücks hat Eric Gauthier selbst als athletisches Duo choreografiert, mit vielen Würfen, Schrauben, Sprüngen auf den Körper, mit vollem Risiko getanzt von Garazi Perez Oloriz und Maurus Gauthier. Was bei Lecavalier und ihrem damaligen Choreografen Edouard Lock eine Unberechenbarkeit wie das Um-sich-Schlagen eines wilden Tieres hatte, wird hier eher zum Effekt. Dennoch fetzt das Duo beeindruckend über die Bühne.

Den zweiten Teil, der sich der neueren Arbeit von Lecavalier widmet, schuf Andonis Foniadakis, der acht Leuchtröhren in der Bühnennacht zu immer neuen Straßen, Fluchten, Arenen gruppiert und für die Gauthier-Truppe einen sich steigernden Sturm an heftiger Bewegung heraufbeschwört. Zu elektronischer Musik und einem Song von David Bowie spielt er auf die innere Energie, das kurzwellige Beben von Lecavaliers eigenen Stücken an, mit denen die fast 60-Jährige inzwischen auftritt. Neigt Foniadakis auch dazu, in Länge und Hektik zu überziehen, so wirkt die peitschende Energie in Kombination mit den tollen Tänzerinnen und Tänzern durchaus atemberaubend; wie dieser ganze Abend, der in sich so erfreulich unterschiedlich ist wie Frauen und Männer.

Weitere Vorstellungen: bis 15. und vom 18. bis 22. Juli, dann wieder im Herbst.