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Die finnische Band Nightwish überrascht 12 000 Fans in der Stuttgarter Schleyer-Halle mit Raritäten

StuttgartAm Anfang sehen und hören die 12 000 Fans nur Troy Donockley, Uilleann Pipes- und Tin Whistle-Spieler von Nightwish. Ein Engländer, der vor fünf Jahren von den Finnen als sechster Mann angeheuert wurde. Leise, melancholisch spielt er heimatlich-folkige Flötenweisen aus dem Song „Swanheart“ von 1998. Eine sanftsinnliche Ouvertüre. Dann bricht das Inferno in der Stuttgarter Schleyer-Halle los. Mit „Dark Chest Of Wonders“ eröffnen Nightwish ihr Konzert. Emppu Vuorinen legt ein brachiales Riff vor. Eine Lärm-Attacke, die Bass und Schlagzeug mit stählernem Getöse kontern. Es ist der Startschuss einer außergewöhnlichen Symbiose aus ergreifenden Melodien und epochalem Bombast. Eine Batterie an Flammensäulen unterstreicht das akustische Bombardement – von der ersten Sekunde an stimmt der erbarmungslose Monumental-Sound. Bereitwillig lässt sich das Publikum, das mittlerweile sogar die Generation 60plus beherbergt, von den Finnen in ihre düster-magische Fantasiewelt entführen.

Faszinierende Zeitreise

Pa ssend zu den zischenden Pyrotechniken, Knalleffekten und dahin kriechenden Bodennebelschwaden laufen aufwendige Videoanimationen auf einer riesigen LED-Wand im Hintergrund: von illuminierten Zauberwäldern und schneebedeckten Bergmassiven, von Wölfen bei Vollmond, endlos weiten Gräber- und Kerzenfeldern oder einem dahinziehenden Sternenhimmel. Ohne diese betörenden, märchenhaft-träumerischen Bilder ist eine Show von Nightwish nicht vorstellbar. Schließlich sind ihre symphonischen Metal-Songs voll von Motiven aus Märchen, Mythen und Sagen. Und ihr Konzert ist ein Trip durch gewaltige Klang- und Bilderlandschaften. Das Sextett schafft mit seinen epischen Musikgemälden den perfekten Soundtrack zu einem Film im Stile von „Herr der Ringe“, der vor dem geistigen Auge der Besucher in dem proppenvollen Hallenrund Wirklichkeit wird. Passend dazu singt Floor Jansen ganz in schwarzem Leder verzweifelte Arien wie „Slaying the Dreamer“ vom Album „Century Child“ (2002). Wie eine Galionsfigur im sturmgepeitschten Meer steuert sie das mächtige Nightwish-Schiff durch die Nacht. Selbst bei rifflastigen Songs wie „Wish I had an Angel“ und „Come cover me“ prallen alle instrumentalen Angriffe ihrer Crew an ihrem kräftigen Organ ab. Seit 2013 ist die Niederländerin die schöne Frontfrau und damit die dritte Goldkehle im Wikinger-Boot. Und sie ist so überzeugend wie nie: Hervorragend meistert sie selbst hohe Tonlagen, die das typische Markenzeichen der Band sind, und bietet dem Bassisten Marco „Gandalf“ Hietala, der ebenfalls am Mikrophon steht, mehr als einmal die vokale Stirn – wie beim wunderbar melodischen Folk-Rocker „Élan“.

Es ist eine erlesene Setliste, mit der Nightwish ihre bisherigen Bandjahre Revue passieren lassen. In Anlehnung an das aktuelles Best-of-Album „Decades“ machen sie sich auf eine extraordinäre Zeitreise durch ihre einzelnen „Epochen“: vom Heavy Metal über Folkrock bis hin zum symphonischen Opernmetal. Besonders Anhänger der Tarja Turunen-Phase, der ersten Nightwish-Nachtigall, dürfen sich über kraftvolle Darbietungen früher Perlen wie „Elvenpath“ und Raritäten wie das Traditional-Cover „Elvenjig“ oder „The Carpenter“, bei dem Troy Donockley den männlichen Gesangspart übernimmt, freuen.

Erstaunlicherweise zeigt Jansen selbst bei jenen Titeln, die einst Turunen gesungen hat, keine Schwächen. Turunen, die 2005 rausgeworfen wurde, ist ausgebildete Opernsängerin, doch Floor ist, gerade weil sie weniger das Operettenhafte und mehr das Erdige verkörpert, eine superbe Nachfolgerin. Das gilt auch beim einzigen Olzon-Song. Die Schwedin Anette Olzon war bis 2012 im Einsatz und sang seinerzeit das orchestrale Album „Imaginaerum“ ein. Das daraus gewählte „I want my Tears back“ interpretiert Jansen dank ihrer stimmlichen Variabilität ebenfalls problemlos.

Zwei Stunden lang dauert das dramaturgisch perfekte Hit-Feuerwerk, das die ungemein spielfreudige Band mit Donnerhall abbrennt. Neben besonderen Schmuckstücken wie „10th Man Down“ oder der Hymne „Nemo“ goutieren die Fans auch die ruhigeren Momente. „Dead Boy’s Poem“ vom Album „Wishmaster“ (2000) besticht durch den ganz eigenen melancholischen Charme. Wie überhaupt der satt-erdige Brachialgitarrensound mit seinen mächtig üppigen Melodielinien von Nightwish in Stuttgarts größter Konzertarena noch nie so schnörkellos und technisch so brillant auf den Punkt gespielt wurde wie an diesem Abend.

Das Ende der märchenhaften Achterbahnfahrt durch Jahrmärkte und Winterlandschaften wird mit „The Greatest Show on Earth“ eingeläutet. Auf der vorangegangenen Tournee 2015 sorgte der Longtrack noch für das fulminante Finale furioso. Diesmal feiern Nightwish das Ende mit ihrem vielleicht epischsten, zehn Minuten langen orchestralen Metal-Song „Ghost Love Score“ vom Album „Once“ (2004). Derart brutal wie schön aus den Träumen gerissen zu werden, erschwert manchmal die Rückkehr in den Alltag.