Abbrucharbeiten am alten Stuttgarter Bahnhof (1924) Quelle: Unbekannt

Das Kunstmuseum Stuttgart widmet seine neue Ausstellung dem Maler Reinhold Nägele. Unter dem Titel „Chronist der Moderne“ zeigt die Schau rund 90 Werke des 1884 in Murrhardt geborenen Künstlers.

Stuttgart - Eine nackte Frau mit harten Gesichtszügen notiert auf einer nicht enden wollenden Liste Namen. Namen von Toten. Sechs Brüste hat die Frau, bittere, wüste Botin des Todes. Ein Aufschrei in Schwarz-Weiß und doch in tiefster, abgründiger Farbigkeit, ein kleines Blatt von enormer Bedeutung, eine Radierung, die der Malerei weit vorauseilt. 1914 kratzt Reinhold Nägele die Szenerie in die Platte. Seine „Verlustliste“ gewinnt nicht erst mit der Sichtbarkeit der Millionen zerfetzter, geschundener Körper an Brisanz, Nägele identifiziert das Völkerschlachten des Ersten Weltkriegs schon früh als eigenen Automatismus. Diese „Verlustliste“ passt kaum zum gerne gepflegten Bild des detailverliebten und lokalen Besonderheiten verpflichteten Malers und Grafikers. Oder führt umgekehrt die Präzision Nägele erst mitten hinein in die Erkenntnis des Grauens? Diese Frage stellt die neue Ausstellung des Kunstmuseums Stuttgart zum Werk Nägeles in überraschender Schärfe und Klarheit. Und damit bekommt auch der scheinbar harmlose Ausstellungstitel „Chronist der Moderne“ Brisanz. Beide Begriffe – „Chronist“ wie „Moderne“ – gewinnen an Vieldeutigkeit, Abgründigkeit, an buchstäblicher Tiefe, die jene, um die es doch gehen sollte, einfach verschlingen kann: die Menschen. Rückkehr zu verlorener Tiefe

Es geht um Behauptung und Realität, und es geht mehr noch um eine Haltung, die Realität als Einsicht meint. Das ist weit entfernt von einer Position, die Nägele zum liebevollen Dokumentaristen verkürzt. Und das führt direkt zu einer Frage, die eine Weiterentwicklung dieser Ausstellung provozieren könnte. Inwieweit nämlich das surreale Moment in Nägeles Schaffen nach der Rückkehr aus 24 Jahren US-Exil (1939-1963) sich dadurch begründet, dass der in New York nach eigenem Empfinden seiner Wurzeln beraubte Maler der geschauten Realität in Manhattan kaum etwas hinzuzufügen hatte – und folgerichtig zurück in Deutschland, in Stuttgart, zuvorderst wieder die verlorene Tiefe zu erreichen suchte.

Sechs Themenblöcken folgt die von Anna-Maria Drago Jekal erarbeitete Ausstellung: Von Nägeles Architektur- und Stadtansichten geht es zu (technisierten) Landschaften, zeitgenössischen Ausstellungsereignissen, dem Cannstatter Volksfest als Sinnbild des Wandels, weiter zu Beobachtungen und Einschätzungen politischer Ereignisse – um schließlich der möglichen eigenen Annäherung an das Werk wie auch das Leben Nägeles in Grafiken, Film- und Radiobeiträgen Raum zu geben. Worauf aber zielt der Maler Reinhold Nägele? Die Ausstellung zeigt deutlicher als manche Schau zuvor die Widersprüchlichkeit dieses scheinbar so schnell summierten Lebenswerkes auf. So braucht es den Nägele der Landschaft und dessen ausschnitthafte Konzentration auf die Technisierung, um in der Annäherung an den urbanen Wandel künstlerische Spannung zu gewinnen. Dokumentarisch interessant sind Nägeles Baustellen-Blicke fraglos, doch erst ein Bild wie „Ludwigsburger Straße“ (1923), das den mächtigen Wall für die Zuführung zu Bonatz’ neuem Hauptbahnhof zeigt und einen auf den Bahnhofsturm zulaufenden Boulevard suggeriert, ist als Experiment in Farbe und Form wirklich von Bedeutung. Dagegen zeigt die Reihe von Gleislandschaften („Bahnübergang am Stadtrand“, 1912; „Bahnlinie“, 1922; „Abendlandschaft, Curve Murrhardt“, 1931) spannungsvolle Kontinuität: Der Landschaftseingriff mit Masten, Leitungen und Signalanlagen ist zugleich reale Figuration wie abstraktes Liniengeflecht, das sich gegen jeweils in sich fein differenzierte Farbräume abhebt. Die bewusst gesuchte Leere der Gleislandschaften schafft Abstand, schafft Distanz, schafft Überblick – ein Thema, das in Nägeles Schaffen mehr und mehr auch zu einem Qualitätsmerkmal wird. Distanz im Sinne einer Klärung der Verhältnisse und Steigerung der Bedeutung bestimmt die Beschäftigung mit der Internationalen Bauausstellung in Stuttgart 1924 wie dem mit diesem Ereignis verbundenen ersten großen Auftritt der ein Jahr zuvor gegründeten Stuttgarter Secession.

Die neue deutsche Zeit, die der Maler 1935 bei der Einweihung eines Denkmals in Murrhardt noch als absurde Raumdekoration zeigt, entzieht Nägeles Frau, der Dermatologin Alice Nördlinger, schon 1933 die Kassenzulassung, 1937 jegliche Arbeitserlaubnis. Ihr Verbrechen? Ihre Identität als Jüdin. Dem Paar bleibt zuletzt 1939 nur die Flucht nach New York. Hier endet die Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart – eine Schau, die nach zögerlichem Beginn rasch an Fahrt aufnimmt, um sich Reinhold Nägeles Schaffen in seltener Intensität zu nähern.

Bis 3. Juni (Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, freitags 10 bis 21 Uhr). Der Eintritt kostet 6 Euro (ermäßigt 4 Euro).

Von Murrhardt nach New York – und zurück

1884 in Murrhardt geboren, absolviert Reinhold Nägele nach der Schulzeit in

Stuttgart bei seinem Vater in Murrhardt eine Lehre als Dekorationsmaler. Es folgt der Besuch der Kunstgewerbeschule. 1907 wird er durch eine Ausstellung in der Berliner Galerie Cassirer bekannt. 1923 ist er Mitbegründer der Künstlervereinigung Stuttgarter Secession.

1933 entzieht Hitler-Deutschland Nägeles Frau Alice Nördlinger die Kassenzulassung als Ärztin, 1937 wird er aus der Reichskammer der Bildenden Künste ausgeschlossen. Die Söhne werden nach England in Sicherheit gebracht.

1939 emigriert Nägele mit seiner Frau

und kommt über Paris und London nach New York. wo Alice Nördlinger 1961

stirbt.

1963 kehrt Reinhold Nägele nach Murrhardt zurück, wo er nach seinem Tod 1972 auch bestattet wird.