Robert Seethalers „Trafikant“ in der Inszenierung von Hans Ulrich Becker war die vielleicht stärkste Produktion der vergangenen Spielzeit. Foto: Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Esslingen -Was Friedrich Schirmers Esslinger Theaterwelt seit nunmehr drei Jahren sehr erfolgreich im Innersten zusammenhält, kann man schön an der abgelaufenen Spielzeit studieren: Es sind nicht hippe Modeschauen avantgardistischer Theaterästhetiken, sondern feine, mit Bedacht zusammengestellte Kollektionen mit regionalem Zuschnitt - Klassiker, frech verschnitten oder gegen den Strich gebürstet, und Uraufführungen jüngerer wie älterer Stoffe inklusive. Dabei kann sich der Intendant auf seine Lieferanten verlassen. Einer von Schirmers zuverlässigen Theaterautoren ist Jörg Ehni. Er und Regisseur Marcell Keller wuppten bei der diesjährigen Freilicht-Produktion „Luther!“ ein gewichtiges Stück Welt- und Geistesgeschichte vom Beginn der Neuzeit wunderbar vielschichtig und doch federleicht auf die Bühne im Schatten der Esslinger Stadtkirche. Deftig und zugleich differenziert, herzhaft und humorvoll, grobianistisch und gedankenreich, ist dieser Beitrag zum großen Reformationsjubiläum als Volksstück wie als Lehrstück unbedingt sehenswert: Ohne erhobenen Zeigefinger werden hier Fingerzeige fataler Wirkungsgeschichten gegeben. Irgendwann sieht man den Vorzeigetheologen Martin Luther in zünftiger häuslicher Runde ordentlich zechen und schmausen - und bekommt dann unvermittelt Sätze zu hören wie: „Die Synagogen sollte man mit Feuer anzünden und die Häuser der Juden zerbrechen und zerstören“. Das ist ziemlich exakt aus Quellen belegter O-Ton Luther. Martins Frau Katharina lässt Ehni entgegnen: „Stell Dir vor, es kommt einer und macht wahr, was du gesagt hast“.

Vergangenheit, die nicht vergeht

Nun, es kam, wie wir wissen, einer, der das wahr machte. Und mit den judenfeindlichen Hassreden Luthers im Ohr, ging man wenige Tage später zur letzten Saison-Premiere ins Esslinger Schauspielhaus, wo Christine Gnann eine bemerkenswerte Inszenierung der Theaterfassung des Tagebuchs der Anne Frank gelang: ein hochkonzentriertes Exerzitium des Ausharrens einer Zwangsgemeinschaft in der Matratzengruft im Amsterdamer Zwangsexil. Das war ein in aller Dehnung der Zeit atmosphärisch ungemein dichter Theaterabend - auch weil Gnann es schafft, über Videoeinspielungen in die langen Schatten auswegloser Hermetik lichte Augenblicke unbeschwerter Heiterkeit und imaginierter Freiheit zu zaubern. Das war berührend und beklemmend zugleich anzusehen.

Überhaupt: Die Theaterabende über Familienschicksale und familiensystemische Konstellationen gehörten zu den stärksten Produktionen einer guten Spielzeit, die nur wenige schwächere Premieren zu verkraften hatte. Im Falle von Joseph Roths „Hiob“ und Karl-Heinz Otts „Die Auferstehung“ waren es zwei Roman-Dramatisierungen, die auf unterschiedliche Weise funktionierten. Otts Requiem auf einen untoten Familienpatriarchen, das als Theaterbearbeitung in der Fassung und Inszenierung von Matthias Fontheim uraufgeführt wurde, hatte zudem den Charme, dass hier ein Revival anderer Art stattfand: Sechs der beteiligten Akteure gehörten bereits vor 30 Jahren in Friedrich Schirmers erster Esslinger Intendanz dem WLB-Ensemble an. Schade nur, dass man bei dieser „Familienzusammenführung“ in einem schwäbischen Wohnzimmer nicht mehr Mut zur Mundartfärbung zeigte, sondern dialektfreie Tapeten aufzog.

Christof Küster verstand es in seiner Inszenierung von Joseph Roths „Hiob“-Roman, dem Drama um einen von Schicksalsschlägen heimgesuchten Gottessucher eine Märchenhaftigkeit eigener Art einzuhauchen. Die patriarchalische Titelfigur, eigentlich ein Fall für die archaische Mottenkiste, wirkt so, wie sie in diesem Setting angelegt ist, erstaunlich aktuell - als Typus eines religiösen Hardliners und Clanführers.

Einen Schwerpunkt im WLB-Spielplan 2016/17 bildeten Stoffe aus dem frühen 20. Jahrhundert und der jüngeren Zeitgeschichte. Neben dem „Hiob“ und dem „Tagebuch der Anne Frank“ gab es mit Robert Seethalers 2012 erschienenem Roman „Der Trafikant“ eine weitere Produktion über jüdische Schicksale im Mahlstrom der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Es war eine WLB-Uraufführung, für die der Autor seinen Roman selbst bearbeitet hatte. Die Dramatisierung des Stücks über einen von der Macht des Bösen noch weitgehend ahnungslosen Mann, der in Zeiten des „Anschlusses“ Österreichs ans Deutsche Reich aus der Geborgenheit der Provinz in die brodelnde Metropole Wien kommt, ist als individuelle Geschichte eines Erwachsenwerdens voller Hindernisse wie als Momentbelichtung einer Gesellschaft am Abgrund ein echtes Highlight, ja vielleicht der Saison-Höhepunkt geworden - auch weil hier Schirmers während der gesamten Spielzeit überzeugendes Schauspielerensemble von einer bezwingenden Regieleistung profitierte. Hans Ulrich Becker, noch einer von Schirmers Weggefährten (er war in Stuttgart Hausregisseur des damaligen Staatsschauspielintendanten), trifft mit seinem schaurig schönen Totentanz präzise Seethalers lakonischen Ton: eine wahrlich kongeniale szenische Umsetzung einer ingeniösen Textvorlage.

Der Reflexion des 20. Jahrhunderts war neben diesen Roman-Bearbeitungen auch eine Fernsehfilm-Adaption gewidmet. Klaus Hemmerles gelungene Inszenierung von Karl Wittlingers „Seelenwanderung“ deckt sozusagen als Gegenstück zur Niedertracht-Parabel aus den Zeiten der NS-Barbarei menschlichen Abgründe auf, die sich in den Boomjahren der jungen Bundesrepublik auftaten: eine bitterböse Komödie über den Ausverkauf des Menschlichen in den Goldgräberjahren der jungen Bundesrepublik.

Las Vegas am Neckar

Eine andere Nachkriegsbestandsaufnahme, Leonard Wibberleys Aufrüstungs- und Nuklearwaffen-Groteske „Die Maus, die brüllte“, verpuffte dagegen bei ihrer deutschsprachigen Erstaufführung - was aber vor allem auch daran lag, dass die Textvorlage einfach nicht wirklich zündenden Dialogstoff lieferte. Immerhin: Falk Rößler vermochte in seiner Inszenierung dann doch noch Feuer an die bitter-böse Lunte zu legen - mit Video-Einspielungen, welche die US-amerikanische Weltmachtmaschinerie in trefflichen Lokalbelichtungen travestierte.

Von vornherein als Regio-Farce abgebunden war eine zweite Uraufführung mit einem Text von Jörg Ehni. „Lindenhöfler“ Siegfried Bühr servierte als Regisseur die honoratiorenenschwäbische Variante einer Labiche-Komödie. „Fatal! Fatal! - Mord auf dem Schillerplatz“: ein leicht verdauliches Boulevard-Menü, für Mundart-Gourmets zweifellos ein Genuss.

Ein Muss - zumindest für alle Elvis-Fans - sind die Tribute-Shows mit Nils Strassburg. Der Schwabe mit amerikanischen Wurzeln und derzeit wohl beste deutsche King-Imitator kommt aus der Region. In der vergangenen Spielzeit hat er mitsamt seiner fulminanten Band Las-Vegas-Flair auch ins Esslinger Schauspielhaus gezaubert. Das Engagement des schwäbischen Elvis und seiner Roll Agents: ein echter Coup von Schirmer. Nun heißt es auch in der kommenden Spielzeit: Der King lebt - und die Esslinger Landesbühne beweist es!

A propos Rock‘n‘Roll: Dass die WLB auch Klassiker kann, hat sie gleich zu Beginn der vergangenen Spielzeit mit ihrer Rocky-Horror-Sci-Fi-Faust-Show bewiesen. Kein Wunder, dass so, wie Schirmer und sein Team mit einem gelungenen Stoffe-, Formate- und Ästhetik-Mix nun schon im dritten Jahr die Landesbühne rocken, das nüchterne Bilanzwerk swingt: Nimmt man die Gastspiele hinzu, haben sich die Besucherzahlen inzwischen stabil und deutlich oberhalb der 100 000er-Marke eingependelt.

In einer kleinen Serie zogen wir eine Bilanz der vergangenen Spielzeit an den großen Bühnen der Region.