„Der Westen ist mit seiner Weisheit am Ende“, sagt Felwine Sarr. Foto: P. Normand - P. Normand

Der Ökonom, Musiker und Autor Felwine Sarr aus dem Senegal hat den französischen Präsidenten in Fragen kolonialen Kulturbesitzes beraten und die Rückgabe an die Ursprungsländer empfohlen. Seitdem wird auch hierzulande heftig diskutiert. In Stuttgart kuratiert Sarr das Membrane-Festival für afrikanische Literatur, das an diesem Donnerstag, 23. Mai, beginnt.

StuttgartFelwine Sarr hat den französischen Präsidenten in Fragen kolonialen Kulturbesitzes beraten und ist einer der Kuratoren des Membrane-Festivals, das von diesem Donnerstag an afrikanische Literatur nach Stuttgart bringt. Wie beides zusammenhängt, erläutert Sarr im Gespräch mit unserer Zeitung.

Herr Sarr, was kann der Westen von Afrika lernen?
Er könnte zuhören lernen. Die letzten Jahrzehnte hat immer nur der Westen geredet. Doch er ist mit seiner Weisheit inzwischen am Ende. Er sollte sich einmal öffnen für das, was andere Kulturen zu bieten haben, und nicht immer nur denken, alles Relevante fände sich in Europa oder den USA. Allein wenn man in die ökologische Sackgasse blickt, in die sich die westliche Lebensweise manövriert hat: Von der langen afrikanischen Geschichte könnte man manches lernen, ein anderes Verhältnis zur Natur, eine andere Idee des gesellschaftlichen Miteinanders – gerade in Zeiten der Migration, der sozialen Spaltung und Desintegration.

In Ihrem Essay „Afrotopia“ entwickeln Sie ein eigenes afrikanisches Zivilisationskonzept. Was ist Ihre Utopie für Afrika?
Jede Gesellschaft muss über ihre Vision des Zusammenlebens selbst entscheiden, wie sie Ökologie, Ökonomie und ihre kulturelle Praxis miteinander vereinbart. Ich glaube nicht, dass es da einen Satz allgemein verbindlicher – westlicher – Standards gibt, die alle zu erfüllen haben. Der erste Schritt in die intellektuelle Freiheit bedeutet, selbst zu entscheiden, was gut für einen ist. Wir müssen unseren eigenen Weg finden und aus unserem eigenen Archiv der Humanität schöpfen.

Welche Rolle spielt dabei die Literatur?
Literatur und Kunst sind Orte des Imaginären. Wir brauchen technisches und naturwissenschaftliches Wissen, Physik und Mathematik. Aber wenn eine Gesellschaft träumt, um sich neu zu erfinden, findet das im Raum der Literatur und der Kunst statt. Das sind die Orte einer geistigen Erneuerung. Hier werden soziale Probleme ausgetragen, hier gewinnen wir ein Bewusstsein unserer selbst, über eine rein materielle Bestimmung hinaus.

Sie haben für das Membrane-Festival ein sehr breites Autorenfeld eingeladen. Was verbindet die Autoren?
Wir wollen in Stuttgart die afrikanische Literatur in ihrer Vielfalt zeigen. Denn Afrika ist viel mehr, als der Begriff umfasst. Jenseits der Berühmtheiten, die auf allen Festivals zu finden sind, gibt es so viele interessante Namen aus auch sprachlich verschiedenen Gegenden des Kontinents: Sie sollen hier ihren Auftritt haben. Die Themen, Gegenstände, Ausdrucksformen variieren immens, aber sie bleiben dabei immer auf die Probleme Afrikas bezogen: auf soziale Fragen, Konflikte zwischen Generationen und Geschlechtern.

Warum eigentlich Membrane?
Dahinter steckt die Idee des Austauschs, der Übertragung. Jedes Buch ist durchlässig für Ideen und Gefühle. Und zu einer Membran gehört auch das Phänomen der Resonanz. In Kunst und Literatur vibriert unser Leben.

Seit Ihrem Bericht an den französischen Präsidenten, in dem Sie die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes fordern, ist darüber eine vitale Debatte entbrannt. Sind Sie mit deren Verlauf zufrieden?
Das Thema liegt nun auf dem Tisch und wird diskutiert. Das ist immerhin etwas. Jedes Land hat seine eigene Weise, darüber zu reden. Die Debatte in Deutschland ist nicht die gleiche wie in Frankreich. Aber sie dreht sich hier wie dort um das zentrale Thema der Dekolonisation und die Frage, wie man das Verhältnis zwischen Europa und Afrika neu denken kann: im Blick auf die Symbolik kultureller Artefakte, auf Geschichte und Erinnerung. Für mich ist das Wichtigste, dass man überhaupt eine gemeinsame Gesprächsbasis gefunden hat.

Wie sind die Reaktionen in Afrika?
Ich war letzte Woche in Äthiopien und habe mit Botschaftern afrikanischer Staaten über die Frage der Restitutionen geredet. Die Leute sind sich der enormen Bedeutung der Objekte bewusst und wollen sie zurückhaben, sie wissen um den Wert des kulturellen Erbes. Doch man diskutiert hier weniger über die Relevanz der Rückerstattungen als solcher. Es geht vor allem darum, wie man die Gegenstände wieder in das Leben integrieren kann, mit ganz anderen Bedeutungen und Funktionen als jenen, die sie in westlichen Museen angenommen haben.

Sind Sie zuversichtlich, dass die Diskussion auch Folgen haben wird?
Sie wird Konsequenzen haben, aber vielleicht nicht in einem einfachen, geradlinigen Sinn. Das erste Ergebnis war Frankreichs Erklärung, 26 Objekte an Benin zurückgeben zu wollen. Was man Benin gewährt, kann man anderen Staaten nicht verweigern. Auch in Deutschland ist Bewegung in die Sache gekommen. Erst vor Kurzem wurde ein Steinkreuz an Namibia zurückgegeben. Das ist eine wichtige symbolische Geste, da geht es gar nicht in erster Linie um Quantitäten, wie viele Objekte nun im Einzelnen zurückkommen. Es ist eine Frage der Ethik und des Respekts.

Das Gespräch führte Stefan Kister.

Person: Felwine Sarr, 46, unterrichtet Wirtschaft an der Universität Gaston Berger in Saint-Louis im Senegal. Zusammen mit Bénédicte Savoy wurde Sarr 2016 von Emmanuel Macron beauftragt, einen Bericht zur Rückgabe afrikanischer Kunst, die während des Kolonialismus in französische Museen gebracht wurde, zu erarbeiten. Im November 2018 empfahlen Sarr und Savoy eine rasche und umfassende Restitution.

Festival: Membrane bringt über 30 internationale Gäste nach Stuttgart.

Programm: Für das Programm sind neben Felwine Sarr die Journalistin Nadja Ofuatey-Alazard und die Autorin Yvonne Adhiambo Owuor verantwortlich. Das Festival beginnt an diesem Donnerstag um 17 Uhr im Stuttgarter

Literaturhaus mit einem deutsch-kamerunischen Comic-Briefwechsel. Bis Sonntag sind Lesungen, Ausstellungen, Interventionen und Kulinarik zu erleben. Mit dabei sind Taiye Selasi, Souleymane Bachir Diagne, Sharon Dodua Otoo, Mohamed Amjahid und viele

andere.