Von Martin Mezger

Stuttgart - Das ist Coolness: Heute hat Barrie Kosky mit seiner „Meistersinger“-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen Premiere, gerade mal zwei Tage vorher begleitet und moderiert er einen Abend mit jiddischen Operettenliedern im Stuttgarter Mercedes-Museum. Mögen andere nervös sein vor einem Bayreuth-Debüt. Kosky, Chef der Komischen Oper Berlin und pointierter (wenn auch mal danebentastender) Liedpianist, gönnt sich eine „Bayreuth-Katharsis“. Locker vom Klavierhocker plaudert er, selbst jüdischer Abstammung, über das jiddische Musiktheater, im späten 19. Jahrhundert in Europa entstanden, dann mit seinen Akteuren in die USA emigriert, um Not, Pogromen, schließlich den heraufziehenden Nazi-Gräueln zu entkommen.

Spuren von Elend und Verfolgung ziehen sich durch Verse und Moll-Melancholie des Programms, das Kosky zusammen mit der Stuttgarter Mezzosopranistin Helene Schneiderman und der an der Komischen Oper engagierten Sopranistin Alma Sadé 2015 in Berlin kreiert hat. Doch Trauer und Resignation haben keineswegs immer den letzten Ton. Viele der Lieder schwingen sich in tänzerische Vitalität hinein, in temperamentvolle Lebenslust, wenn einem „a bisl liebe, un a bisele glik“ beschieden sind. Oder wenn man gar „Massel“ hat. Helene Schneiderman erklärt den doppelten jiddischen Glücksbegriff: Massel muss man haben, dem Glik kann man nachhelfen. Mit beidem, Massel und Glik, Begabung und Können, folgten die Sängerinnen den großen Spuren Molly Picons, in den 20er- und 30er-Jahren laut Kosky eine Diva, eine Mischung aus „Anneliese Rothenberger und Barbra Streisand des jiddischen Musiktheaters“.

Miniaturen, die die Welt bedeuten

Schneiderman trifft mit ihrer schönen, geschmeidigen Stimme exakt die sanft-elegische Note etwa von Abraham Ellsteins Lied vom ausbleibenden Glück, sie versteht es, melodramatische Momente, die Nähe zum gesprochenen Laut expressiv zu dosieren. Und sie kann aufdrehen: energisch und beschwörend, wenn sich das „Glik“ erst zu spät einstellen will (wie in Alexander Olshanetskys gleichnamigem Lied), erotisch und charmant in den augenzwinkernden Liebesgesängen, etwa Joseph Rumshinskys Stück vom „teuren Yosele“.

Alma Sadé zieht leuchtende Sopranlinien in einem Liebeslied Abraham Ellsteins mit wunderbar Schubert-naher Melodik, verfügt über eine innig-intensive tiefe Lage und über quirligen Parlando-Witz. Dank solche Interpretinnen wurde der Abend zur Entdeckung: Mit den vergessenen, aber kostbaren jiddischen Stücken ist, wie Kosky sagt, das deutsche Kunstlied selbst ins Exil gegangen - die Kunst, die Welt in minutenkurze Miniaturen zu bannen. Aber auch, sie ironisch auf den Kopf zu stellen: So in Aaron Lebedeffs „Rumänien“-Lied von 1947. Für Juden einst die Hölle auf Erden, wird das Land im nostalgisch-satirischen Rückblick zum schlaraffenhaften Paradies. Die hinreißend gesungene Wiederholung als Zugabe hat Kosky Richard Wagner gewidmet. Geschieht ihm recht, dem alten Antisemiten.