Der umstrittene Soulsänger erschafft mit Erzählungen über seinen neugeborenen Sohn eine intime Atmosphäre. Foto: Mike Kunz Quelle: Unbekannt

Von ingo weiß

Stuttgart - Mehr als 100.000 Besucher sahen vor Jahresfrist Xavier Naidoos Unplugged-Tour „Nicht von dieser Welt“. Eine außergewöhnlich hohe Resonanz seines akustischen Tourneeprojekts, das regelrecht nach Fortsetzung schrie und den Mannheimer nunmehr auch in die Stuttgarter Schleyerhalle führte. Der Nachschlag ist nur äußerlich eine Wiederholung der ersten Serie - aber im Vergleich beider Teile musikalisch der bessere.

Wieder ist es dieselbe Rundbühne, die wie ein gelandetes Ufo, eben nicht von dieser Welt, in der Arena-Mitte thront und damit beste Sicht von allen Sitzplätzen bietet. Der Spagat, hier Großhalle, dort intimer, intensiver Rahmen, gelingt damit hervorragend. Und erneut hat der 46-jährige Sänger den Gitarristen Alex Auer und Neil Palmer am Flügel um sich geschart, diesmal allerdings ergänzt um einen ebenso fantastischen Percussionisten. Der innere Bühnenkern dreht sich meist, so dass Naidoo - Sakko, Schiebermütze, Sonnenbrille und Notenpult vor sich - wunderbar gesehen werden kann. Und von den 10.000 Fans gehört. Die Soundqualität ist unfassbar brillant.

Von hier breitet Naidoo strahlenförmig und ungemein dekorativ seine exzellente Mischung aus Soul, R&B, Gospel, HipHop und Pop aus. Wie Girlanden hängt er seine Song-Ketten in der Arena auf, mal stramm gezogen, mal baumelnd, mal laut, mal leise, mal hoch, mal tief über den Köpfen des faszinierten Publikums. Xavier Naidoo singt samtig und weich, er flüstert, scattet und rappt, dass es eine wahre Freude ist. Er gleitet vom tiefen Bass bis ins hohe Falsett. Dann wiederum singt er mit derart großer Kraft und mit riesigem Herzen, dass die Halle bebt. So fern und doch so nah. Naidoo besitzt zweifelsohne die größte Soulstimme des Landes, vielleicht ist er sogar der beste deutsche Sänger momentan.

Fast ehrfurchtsvoll erstarrt

Die beiden Alben „Nicht von dieser Welt“ (sein Debüt 1998) und „Nicht von dieser Welt 2“ (2016) spielen an diesem Abend, anders als vor einem Jahr, so gut wie keine Rolle, sieht man vom Klassiker „20 000 Meilen“ ab. Dafür hat Naidoo die Werke „Zwischenspiel“ (2002), „Alles kann besser werden“ (2009) und „Telegramm X“ (2005) in den Fokus gerückt und konzertiert sich damit durch ein dramaturgisch perfektes, fulminantes Best-of-Programm. Er startet unprätentiös mit „Wo willst Du hin“, gefolgt von „Bitte hör’ nicht auf zu träumen“ und dem arabisch angehauchten „Wir haben alles Gute vor uns“. Binnen kurzer Zeit sind die Fans selig, fast ehrfurchtsvoll erstarrt vor dem dunkelhäutigen Sänger mit indisch-südafrikanischen Wurzeln und dieser wunderbaren Stimme, die durch die instrumentale Reduktion noch klarer, noch reiner erstrahlt als sonst.

Dass der bekennende Christ Naidoo seit seiner Erweckung 1992 ein religiöser Mensch ist, ist kein Geheimnis. Schon sein Debütalbum, das sich bis heute über eine Million Mal verkaufte, passt gut in jeden Religionsunterricht. Und auch in der Schleyerhalle hält er mit seinem Glauben nicht hinterm Berg zurück. In mehreren Liedern, wie in „Wenn Du es willst“ oder „Ich brauche Dich“, singt er über das Christsein, singt von Nächstenliebe und unverfälschter Liebe, einem zentralen Thema an diesem Abend. Wie Regentropfen auf einer Wange perlen die Stücke in den Ohren der Fans, wie Lobgesänge in der Stille. Naidoo preist Gott. Und die 10.000 Fans preisen gebannt lauschend ihn. Das muss man nicht mögen, aber verwerflich ist das keinesfalls.

Es sind bekanntlich andere Dinge, die Xavier Naidoo zum umstrittenen Sänger machen. Er bedient bestimmte Muster der Rechtsextremen, stellt sich mit politischen Äußerungen immer wieder ins Abseits und sabotiert sich reputationsmäßig damit selbst. Immerhin: Den umstrittenen Song „Marionetten“, ein Lied der Söhne Mannheims, deren Mitglied Naidoo ist, lässt er weg. Und krudes Geschwätz und politische Statements vermeidet er ebenfalls. Im Gegenteil: Bestens aufgelegt überzeugt der gewiefte Entertainer mit launigen Zwischenmoderationen und bedient mit Geschichten wie der über seinen neugeborenen Sohn bestens die Gefühlsklaviatur der Besucher.

Mit derart offen-ehrlichen Erzählungen gelingt es ihm, eine ungemein intime Atmosphäre zu schaffen, fast wie in einem Probenraum. Und natürlich mit seinem einzigartigen Genremix, der zwischen gefühlvollen Balladen wie dem überragenden „Sie sieht mich nicht“ und mitreißenden Gänsehaut-Hymnen changiert und von komplex-tiefgründiger Lyrik durchsetzt ist. Naidoos musikalische Virtuosität und Vielseitigkeit ist hervorstechend. Auch die seiner Mitstreiter, die seine Songs besser, natürlicher, nackter und variantenreicher klingen lassen als auf CD. Das Ganze lässt sich hautnah auch auf sechs riesigen, durchscheinenden Gaze-Videoleinwänden verfolgen, die über der Bühne kreisrund angeordnet hängen und ab und an nach oben gefahren werden. Im Zusammenspiel mit verschiedenfarbigem Licht entstehen beeindruckende Bühnenbilder.

Leuchten in der Musik

Vom brandneuen, achten Studioalbum „Für Dich“ spielt Naidoo neben „Stille“ nur „Mach Dir keine Sorgen“, das er seiner 83-jährigen Mutter gewidmet hat. Das sehr persönliche Album handelt ansonsten fast ausschließlich von Vater- und Ehefreuden. In „Söldnerlied“ singt er dagegen gegen Kriege im Allgemeinen. Naidoo besingt wichtige Themen und hat auch das Gefühl, diese Themen zu transportieren und zwar mit einer unglaublichen Energie, obwohl er bis auf den Schlussakkord die ganze Zeit sitzt. Es ist ein Leuchten in der Musik und in den Gesichtern des Publikums.

Mit dem Überraschungsgast Cassandra Steen, der in Ostfildern gebürtigen Pop- und R&B-Sängerin, duettiert er sich gleich zweimal. Zuerst bei „Alle Männer müssen kämpfen“ von 2002 und danach noch bei „Kraft“, einem neuen Stück der deutschen Soulband Glashaus. Einen der „Väter“ des Soul, den längst verstorbenen US-Amerikaner Sam Cooke, ehrt Naidoo mit dem 1964 erschienenen, gospeligen „Change is gonna come“. Der verdiente Lohn am Ausgang des regulären Sets: Stehende Ovationen und zu „Ich kenne nichts“ eine Stimmung wie in einer Fußball-Arena.

Entsprechend beendet Naidoo am Abend der WM-Auslosung das mitreißende „Clubkonzert“ im angehängten Zugabenteil mit seinem Kopf-hoch-Gospel „Dieser Weg wird kein leichter sein“. Die Hymne war bekanntlich die inoffizielle Hymne zum Sommermärchen, der Fußball-Weltmeisterschaft von 2006 in Deutschland. Für 140 Minuten, die Pause nicht mit eingerechnet, hat Naidoo den Fans den Himmel auf Erden geholt. Und ihnen einen adventlichen Ratschlag mit auf den Nachhauseweg gegeben: Hört nicht auf zu träumen von einer besseren Welt.