Was „deutsche Leitkultur“ sein soll, wissen wir nicht so genau, aber das sind wir jedenfalls nicht: Burka. Wer wollte unserem christdemokratischen Bundesinnenminister Thomas de Maizière da widersprechen? Foto: dpa Quelle: Unbekannt

In der Moderne ist Identitätsbildung eher eine Frage der Unterschiede als des national Verbindenden.Die politisierte Leitkultur ist eine Mogelpackung: entweder leer oder Tarnung autoritärer Absichten.

Von Martin Mezger

Berlin - Da ist sie wieder, die „deutsche Leitkultur“, eine hyperventilierende Mund-zu-Mund-Beatmung politischer Möchtegern-Debattenführer. Im Jahr 2000 hat der damalige CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz den Begriff auf den Schild gehoben - mit großem Erfolg, was den aus Applaus und Empörung sich addierenden Aufmerksamkeitseffekt anbelangt. Damit war die Tauglichkeit als rhetorisches Lärminstrument erwiesen, auch wenn die Debatte irgendwann in ihren allerletzten Echos verebbte. Bis das „Leitkultur“-Wort wieder lautstark und auf bewährte Wirkung kalkulierend von AfD-Politikern in den Mund genommen wurde. Ihnen las es jetzt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) von den Lippen ab.

Bemerkenswert ist indes, dass am Beginn der Kette eine ganz andere Absicht stand: die des Islamwissenschaftlers Bassam Tibi, des wahren Urhebers des Begriffs „Leitkultur“. 1998 schrieb er von einer „europäischen Leitkultur“, verstanden als Bekenntnis zur uneingeschränkten Geltung der Menschen- und Freiheitsrechte, zur Trennung von Politik und Religion - und als Einwand gegen Integrationseuphorie und allzu naive Träume von einer „multikulturellen Gesellschaft“. Nur hütete sich Tibi vor dem nationalistischen oder gar deutschtümelnden Akzent. Das „Europäische“ setzt auf einem abstrakteren Niveau an als der Appell ans Nationale, der unweigerlich emotionale Schwellen bis hin zum Ressentiment senkt. Grund dafür ist die zumindest bei der Bevölkerungsmehrheit quasi automatisch durch Geburt gesicherte nationale Zugehörigkeit, über die man nicht groß nachdenken muss. Was die politische Romantik des 19. Jahrhunderts - mit den bekannten Folgen des Chauvinismus und letztlich eines fortwährenden europäischen Kriegszustands - als „nationales Wesen“ postuliert und glorifiziert hat, ist auf die Ebene eines Gefühlsrestbestands herabgesunken. Doch mögen „wir Deutsche“ uns auch als Deutsche fühlen - was bedeutet das in einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft, wo Identitätsbildung eher eine Frage der Unterschiede als des national Verbindenden ist? Es bedeutet, dass die Leute alles Mögliche meinen, wenn sie „ich“ sagen: Beruf, politische Haltung, sexuelle Orientierung, religiöses Bekenntnis oder antireligiöse Einstellung, Musikgeschmack, kulinarische Vorlieben, bevorzugte Urlaubsziele und vielleicht noch die Wahl der Zahnpasta. Es bedeutet auch, dass beim Wechsel vom Ich zum Wir das Verbindende eine Leerstelle ist, eine Offenheit, die man Toleranz nennen kann, aber kein verbindliches Leitbild.

Die Leitkultur-Fürsprecher retten sich aus dem Dilemma, indem sie sich ihm unterwerfen: Um den Preis der Banalität geht ihnen leichter über die Lippen, was „wir“ nicht sind als was „wir“ sind. Daher de Maizières Holzschnitt-Sprech, ein Highlight deutscher Sprachkultur: „Wir sind nicht Burka.“ Hat jemand das Gegenteil behauptet? Positiv gewendet kommt bei de Maizière ein leitkulturelles Sammelsurium heraus, das nicht minder die Banalität und in seiner sprichwörtlichen Verwechslung von Äpfeln und Birnen obendrein die Peinlichkeit streift: Wir sind Fußballweltmeister und Meister der Erinnerungskultur, wir sind Karnevalisten, Besucher von Volksfesten und Marktplätzen, geben uns zur Begrüßung die Hand, schätzen „Bildung und Erziehung als Wert und nicht allein als Instrument“, haben eine „Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten“. Widerspricht jemand?

Der Leitkultur-Begriff ist freilich nicht damit erledigt, ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Schwierigkeit, ihn positiv zu besetzen, begegnen seine Vertreter mit einer Kontrastfolie, einem Feindbild: aktuell der fundamentalistische Islam. Auch de Maizière sendet entsprechende Signale. Seine scheinbar nur auf Höflichkeit zielende Wendung vom Händeschütteln richtet sich gegen jene Muslime, die aus religiösen Gründen Frauen nicht die Hand geben. Sein Verweis auf zivile Konfliktregelung und den „Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln“ gilt der parallelgesellschaftlichen Anwendung der Scharia, Praktiken von der Zwangsehe bis zu sogenannten Ehrenmorden, aber auch Umfrageergebnisse, denen zufolge knapp die Hälfte der türkischen Muslime in Deutschland den Koran über das Grundgesetz stellen.

Von der Logik her wird „deutsche Leitkultur“ damit durch eine doppelte Negation definiert, als gälte die mathematische Regel „minus mal minus gibt plus“ auch im Gesellschaftlichen: Zurückgewiesen wird die Zurückweisung der „leitkulturellen“ Freiheiten durch eine andere, unfreie, in diesem Fall islamistische Kultur. Daraus folgt einerseits ein politischer Zirkelschluss, andererseits ein kontraproduktiver Fehlschuss. Zum einen: Das Leitkultur-Getöse mündet in nichts anderes als einen braven gesellschaftlichen Konsens. Zwar gab und gibt es Vertreter eines dogmatischen Multikulturalismus, die beispielsweise die Zulässigkeit der Scharia unter Muslimen in Deutschland fordern. Doch deren politische Resonanz ist - auch unter einschlägigen Verdächtigen namentlich bei den Grünen - mittlerweile verschwindend bis nicht mehr vorhanden. Zum anderen: Die Islamisten selbst werden sich nicht beeindrucken lassen von Leitkultur-Polterern, vielmehr dürften sie ihnen als Bestätigung eigener Feindbilder willkommen sein.

Doch unseren leitenden Polemikern geht es eben nicht - oder nicht nur - um real existierende Probleme, sondern um Wahlergebnisse. Und dann macht die Rede von der „deutschen Leitkultur“ tatsächlich einen emotionalisierenden Sinn innerhalb eines Bedrohungsszenarios, das eine wachsende Fremdbestimmung, sprich: Islamisierung beschwört. Denn nicht erst eine krisenhafte Zuspitzung selbst, sondern bereits die erfolgreich verbreitete Angst vor ihr könnte die Ausgangssituation entscheidend verändern. Erst recht, wenn sich eine zweite Angst dazu gesellt, die vor einer wirtschaftlichen Prekarisierung aufgrund globaler oder europäischer Entwicklungen.

Das Zusammenwirken mehrerer Faktoren, so das Kalkül, wird den Leuten die luxuriösen Identitätsflausen austreiben und sie aufs Eingemachte - die nationale Identität - zurückwerfen. Die Nachfrage nach „deutscher Leitkultur“ wird steigen, auch wenn kein Mensch sagen kann, was das heute eigentlich sein soll. Doch selbst wenn die Rechnung bei den Wählern aufgeht, bleibt das Leitkultur-Gerede Blabla. Denn wie soll eine Demokratie - bestehend aus Legislative (dem gesetzgebenden Parlament), Exekutive (der an diese Gesetze gebundenen Regierung) sowie einer unabhängigen, die Einhaltung der Gesetze überwachenden Rechtssprechung - eine Leitkultur installieren, bei der es laut de Maizière gerade nicht um „Rechtsregeln, sondern ungeschriebene Regeln unseres Zusammenlebens“ geht? Die politisierte Leitkultur ist eine Mogelpackung: entweder leer oder, allen wohlfeilen Freiheits- und Toleranzbekenntnissen zum Trotz, Tarnung autoritärer Absichten; einer Rückabwicklung der offenen Gesellschaft, die man vielleicht nicht unserem Innenminister, wohl aber seinen Vorbetern von der AfD unterstellen kann.

Verräterisch allerdings ist der oberlehrerhafte Tonfall, mit dem auch de Maizière über jede Empirie hinweggeht und den Deutschen ihre kulturelle Identität verordnet. Dass weitaus mehr unserer Landsleute lieber Pop-Songs - möglichst noch fremdsprachige - hören als den vom Innenminister auf den Kultursockel gehobenen Johann Sebastian Bach, dass sich die Mehrheit eher auf irgendwelchen Apps als bei Goethe daheim fühlt, mag man zwar bedauern. Aber was soll eine Leitkultur, die mehrheitliche Wir-Gefühle propagiert und unter der Hand in Minderheitenprogramme verwandelt? Was soll der faule Zauber mit Kulturfetischen, dem keine Realität entspricht? Das mürbe Respekt-Restlein, das noch die Ahnungslosesten der sogenannten Hochkultur zollen, wird als vaterländischer Verdienstorden ausgegeben.

Noch brüchiger wird es, wenn der Gemeinplatz von der „christlich-abendländischen Kultur“ bemüht wird - bei de Maizière eher indirekt, von anderen Leitkultur-Predigern lauthals. Mal abgesehen davon, dass sich heute weniger als 60 Prozent der Deutschen zu einer christlichen Kirche bekennen, im Nordosten sogar nur noch rund 20 Prozent: Schon vergessen, dass Errungenschaften wie Demokratie, Gleichberechtigung der Frau, Toleranz und Religionsfreiheit nicht mit dem, sondern gegen das kirchlich verfasste Christentum durchgesetzt wurden, ja dass sie von den Kirchen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein massiv bekämpft wurden? Freilich kann man in gedankenakrobatischer Spekulation eine Art anonymes Christentum jenseits der Amtskirchen für die Aufklärung und ihre Folgen in Beschlag nehmen. Doch als Parole haftet dem „christlichen Abendland“ jener falsche Zungenschlag an, der Zweifel weckt, ob es ihm wahrhaftig um Freiheit oder nicht doch eher um Autorität geht.

Und trotz allem existiert sie tatsächlich: eine „Leitkultur light“, die notwendigerweise die Grenzen der Toleranz gegenüber der Intoleranz zu ziehen hat. Eine solche Leitkultur ist innerhalb einer freiheitlichen Demokratie keine politische Aussage, sondern gesellschaftliche Grundvereinbarung. Aber sie ist zugleich eine historische, zivilisatorische und nur in wenigen Weltgegenden erreichte Leistung. Womit sich abermals der Zirkel schließt: Deutsche, europäische, abendländische Leitkultur lässt jeden nach seiner Fasson selig werden. Sie ist nicht das Gegenteil von Multikulti, sie ist damit identisch.