Lajos Lencés als Neunjähriger, damals noch mit Klarinette... Quelle: Unbekannt

Lajos Lencsés war 37 Jahre lang Solo-Oboist des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart und dank zahlreicher Plattenaufnahmen einer der bekanntesten Musiker des Klangkörpers. Jetzt hat der 76-Jährige seine Memoiren vorgelegt – und nimmt darin kein Blatt vor den Mund.

StguttgartEr spielt mit den Händen. Er schreibt mit der Hand. Seine Kommunikation findet mit Vorliebe live und vor Ort statt. Er liebt analoge Konzerte. Und bei einem Treffen draußen vor einem Café bestellt er keine Latte macchiato, sondern, wie früher, ein Kännchen Kaffee. Lajos Lencés, der Mann mit dem wehenden weißen Haar, gehört zu Stuttgart wie der Fernsehturm. Dort, zeigt Lencés, schwitzt er in der Sauna. Und hier ist der Marktstand, an dem er einkauft – und sich dort auch mal von einer Marktfrau erzählen ließ, sie habe Musik von Helmut Lachenmann im Radio gehört. Das sei zwar „anders als Mozart“, aber interessant, „der Mann muss sich viele Gedanken gemacht haben“.

Im Opernhaus lässt sich Lencés von Wagners „Tristan und Isolde“ oder von Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ tief berühren. In der Stiftskirche sitzt er fast jeden Freitag, bei der „Stunde der Kirchenmusik“, und „so viel Wunderbares“ hat er dort schon entdeckt! Vor allem aber ist der heute 76-jährige Lajos Lencsés 37 Jahre lang nicht nur Solo-Oboist im Radio-Sinfonieorchester Stuttgart gewesen, sondern eines von dessen Markenzeichen. „Ich bin treu“, sagt Lencsés, „ich hätte nie bei den Berlinern gespielt. Ich hätte ja gar nicht gewusst, wie ich da spielen muss.“

Jetzt sitzt der Musiker in der Frühlingssonne vor seinem Kaffeekännchen und zieht glücklich ein Buch aus der Tasche: „Mein ganzes Leben“, sagt er lachend, „war mir die Musik am allerwichtigsten. Jetzt bin ich mir selbst mal wichtig.“ Zehn Jahre lang hat Lajos Lencsés seine Erinnerungen zusammengetragen, hat, wie er es formuliert, „mit Tinte“ geschrieben, durchgestrichen, immer wieder neu begonnen, und man ahnt, wie viel Arbeit auch die Übertragung des Handgeschriebenen bereitet haben muss. Freunde haben sie für den Musiker erledigt – einige der zahlreichen Menschen, die er mit seiner Herzenswärme und seiner Offenheit gewonnen hat. „Das denkende Schilfrohr“ ist, in Anlehnung an einen Gedanken von Blaise Pascal, der Lebensrückblick übertitelt, dem der Chef des CD-Labels Bayer Records, Rudolf Bayer, zur Veröffentlichung verhalf.

Das Gute und Mögliche zuerst

Lencsés ist einer, der das Leben anlächelt und der in allem und allen immer zuerst das Gute und Mögliche sieht. Auch dieser Blick auf die Welt dürfte ihm bei der Bewältigung jenes Traumas geholfen haben, das er sich selbst zufügte, zufügen musste: dem Abtrennen der Wurzeln seiner Herkunft. Ja, er hat nach einer Kindheit in einem Bergbauerndorf und einem Studium in Budapest freiwillig, als 23-Jähriger, das kommunistische Ungarn in Richtung Frankreich verlassen, um dort so zu leben, wie er es sich erträumte: „intensiv und frei“. Und ja, er hat bei seinem Weg von Paris über die von ungarischen Flüchtlingen gegründete Philharmonia Hungarica bis nach Stuttgart neue Freunde gefunden – und zwei Orte, an denen er sich zu Hause fühlt: eine Bleibe am Bopser, ein Haus in der Provence.

Trotz alledem fühlt sich Lajos Lencsés bis heute als Emigrant. Die Worte aus Herta Müllers „Atemschaukel“, die er im Café zitiert, kann so jedenfalls nur einer sagen, dem sich das Gefühl der Heimatlosigkeit tief ins Herz gegraben hat: „An einen Ort kommen, der mich nicht kennt.“ Dann schweigt Lajos Lencés kurz. Herta Müllers Worte mitsamt der Pause danach sind so stark, dass sie im Hintergrund weiterklingen, wenn man im Buch von der Kindheit des Musikers liest. Vom dörflichen Großereignis des Schweineschlachtens, über seine Anfänge als neunjähriger Klarinettist in einer Bergmannskapelle, über seine „Umschulung“ zum Oboisten zwei Jahre später (skurrilerweise durch einen Trompeter, der mit ihm zusammen Grifftabellen studierte). Und über seinen musikalisch hoch begabten Vater, der seine Träume nie ausleben konnte. „Ich lebe“, schreibt Lencsés, „mein Leben auch als Erfüllung dessen, was mein Vater von seinem Leben erwartet hat.“

Neugier ist Antrieb und Überlebensstrategie vieler Heimatloser. Neugier hat Lencsés zur Einspielung zahlreicher unbekannter Oboenwerke gebracht. „Unter den Oboisten“, schreibt er, „bin ich der Weltmeister, was Plattenaufnahmen betrifft – ich bin ein heimlicher Popstar.“ Und Neugier hat ihn zu offenen Begegnungen mit Dirigenten und Komponisten geführt, die der Musiker mit großer Empathie beschreibt. Intensiv widmet sich sein Buch Sergiu Celibidache, dem Dirigenten und väterlichen Freund. Roger Norrington, der „Bio-Dirigent“ („Er hat alles naturbelassen in der Musik, so wie es in den Noten stand, und keine Geschmacksverstärker benutzt“), lobte Lencsés überschwänglich: „You’re a Rolls-Royce!“ Und der Pultstar Carlos Kleiber sei gewesen „wie eine lebendige Bombe, die jederzeit explodieren kann“.

Am Ende gibt es noch eine sehr eigen erzählte „Miniatur-Musikgeschichte“, die unter anderem Beethoven zum „ersten Komponisten des Atomzeitalters in der Musik“ ernennt: Das markante Tatatataa- Thema der fünften Sinfonie, strahlend, klein wie ein Atom und kaum noch teilbar, erscheine in der Konfrontation mit anderen Motiven ständig in neuem Licht, „das ist musikalische Kernspaltung“.

Finger in Wunden gelegt

Es gehört unbedingt zum Freigeist Lajos Lencsés dazu, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt. Er kann schwärmen, ebenso aber auch den Finger in Wunden legen. Teodor Currentzis: klasse. Die Fusion der SWR-Orchester: Zerstörung, eine Sünde! Der einst weltberühmte Dirigent Karl Böhm: „Selten habe ich etwas so Niederträchtiges erlebt.“ Bei seinem Blick auf die negativen Seiten der Verquickung von Musik und Moneten kommt Lencsés zwangsläufig auf die einstige „heimliche Kulturhauptstadt der Republik“: „Ach, Stuttgart, einst wunderschön, heute die Ruinenstadt des Turbokapitalismus. Überall klaffen riesige Löcher in ihrem Körper. Man fühlt in seinem Nacken den heißen Atem der geldgeilen Investoren, die durch die Stadt hecheln, um aus dem letzten Quadratmeter Boden noch Profit zu schlagen.“ Dennoch hat der Holzbläser aus Ungarn in Stuttgart Wurzeln geschlagen. Und ziert sein Buch nicht nur mit einer DVD, sondern auch mit eigenen Fotos von Bäumen. Sie stehen für das Holz, aus dem sein Instrument gemacht ist, sie stehen für jene Wurzeln, nach denen er sich zurücksehnt, aber auch für schöne, oft gar skurrile Auswüchse der Fantasie. Lajos Lencsés wird weiterblasen. Hier und dort live und gewiss auch weiter auf CD. „Ich hänge ständig in der Luft“, sagt der Musiker zum Abschied, „aber ich möchte mit niemandem tauschen.“

Lajos Lencsés: Ein denkendes Schilfrohr. Buch mit DVD. Bayermusicgroup. 160 Seiten, 24 Euro.

An diesem Freitag, 5. April, 18 Uhr, stellt Lajos Lencsés in der Stuttgarter Musikhochschule seine Memoiren in einem Konzert vor. Der Eintritt ist frei.