Götterbotin am Flügel: die 16-jährige Emily Bear. Foto: Torsten Volkmer Quelle: Unbekannt

Von Ingo Weiß

Stuttgart - Normalerweise haben bei der Night of the Proms die Sternchen von heute gegen die Stars von gestern keine Chance. Doch bei den diesjährigen Proms, diesem Generationen vereinenden Klassik-Pop-Event, das alle Jahre wieder einer Mischung aus Spa-Besuch und Silvesterparty gleicht, ist das gänzlich anders. Da zieht eine Newcomer-Göre, die dazu noch vornehmlich in der Klassik zuhause ist, den alten Hasen wie Roger Hodgson und Peter Cetera gewaltig die Ohren lang. Emily Bear ist die Entdeckung des Abends - und mit 16 die bislang mit Abstand jüngste Proms-Akteurin.

Bear, die bereits als Sechsjährige im Weißen Haus auftrat, gleicht einem vorweihnachtlichen Verkündigungsengel: jung, charismatisch, sympathisch und mit unglaublichen Talenten gesegnet. Wie eine Götterbotin sitzt die US-Amerikanerin am weißen Flügel und spielt „Skyfall“, jene brillante, von Adele veredelte Titelsong-Hymne aus dem gleichnamigen James-Bond-Film. Schon zum Auftakt verzauberte sie mit dem Epilog aus „La La Land“, dem Oscar-gekrönten Filmmusical, hernach vertonte sie spontan eine rührende Zuschauer-Geschichte, was allerdings nicht zu einer ganz runden Sache geriet. Im Gegensatz zum „Bumble Bear Boogie“, mit dem sie 7000 Besucher virtuos in den Klassik-Pop-Himmel hämmert.

Emily stiehlt selbst den Etablierten von früher regelrecht die Show. Als sie Hodgson bei „School“ begleitet, ruhen die Augen nur auf ihr. Als sie danach von der Bühne geht, kann der ehemalige Supertramp-Sänger mit „Breakfast in America“ oder „Give a little bit“ allerdings eigene Akzente setzen. So blütenweiß sein Anzug, so rein noch immer seine fantastisch hohe Tenorstimme. Bereits zum vierten Mal ist der 67-jährige Brite Teilnehmer der Proms, aber noch nie spielte er den Welthit „Dreamer“ so grandios, so mitreißend.

Peter Cetera, erstmals bei den Proms dabei, war zuletzt vor 35 Jahren in Deutschland auf Tour, vor 32 Jahren ist er aus der Jazzrock-Band Chicago ausgestiegen. Seine unvergleichliche Falsettstimme strahlt freilich noch immer, dennoch ist dem 73-jährigen grauhaarigen Gentleman im perfekt sitzenden schwarzen Anzug die vokale Anstrengung anzumerken, wenn er die Arena mit romantischen Balladen wie „If you leave me now“ und „Hard to say I´m sorry“ verzückt. Allesamt sind es Klassiker, die er geschrieben hat und mit großem Herzen und perfektem Einklang mit dem Orchester singt. Als er dann noch „25 or 6 to 4“ anstimmt, erweckt er nicht nur jenen berühmten Bläsersatz wieder zum Leben, von dem er sich als Solokünstler losgesagt hat, sondern führt den einzigen Chicago-Song des Abends auf, für den er nicht verantwortlich zeichnet. Sein Auftritt ist einfach nur schön.

Cetera und Hodgson sind die akustische Wohlfühloase der Proms, die in großes Hörkino eingebettet ist. Nicht schwülstig, sondern mit Klasse wie beim „Cartoon Festival“. Einst führte Hollywood Zeichentrickfilme mit Orchester auf, Musik und Geräusche wurden live auf die Bilder gesetzt. In der Schleyerhalle ist der Nachahmungseffekt an Rasanz kaum zu überbieten, vor allem dank des hervorragenden Antwerp Philharmonic Orchestra in der Leitung der feurigen Brasilianerin Alexandra Arrieche und mit exzellenten, witzigen Percussion-Einlagen. Einziger Wermutstropfen: Auf Trickfilm-Ausschnitte wartet man vergeblich, die kleine Videowall bleibt dunkel.

Bei der Übermacht Bear, Hodgson und Cetera spielt Melanie Jayne Chisholm alias Melanie C., immerhin ehemaliges Spice-Girl, leider nur eine Nebenrolle. Ihr Auftritt ist solide, aber wenig nachhaltig. Zwar kommt die 43-Jährige voller Power und sympathisch rüber, aber es fehlt ihr an Ausstrahlung. Wenigstens verzichtet sie auf ihren neuen Electro-Pop, sondern singt nur Solo-Klassiker wie „I turn to you“ und „First Day of my life“. Mit Orchester klingen diese Songs stellenweise besser wie so mancher Bond-Titel. Ihre beste Einlage gelingt ihr aber mit „When you’re gone“. Das Original sang sie 1998 zusammen mit Bryan Adams, nun steht ihr John Miles zur Seite.

Er zeigt sich nicht nur da in Hochform. Auch bei „All by myself“ und dem Robert-Palmer-Kracher „Addicted to love“ beweist er formidable Souveränität. Miles, den die Proms schon manchmal als Griesgram erlebt haben, scheint dank Emily Bear in einen Jungbrunnen gefallen zu sein, so himmelt der 67-Jährige das junge Mädchen über den weißen Flügel hinweg an. Mehr noch: Die grandiose Proms-Hymne „Music“ lässt er ausnahmsweise Emily am Klavier einführen, bevor er selbst das Ruder übernimmt. Da haben sich zwei nicht gesucht und doch gefunden.

Bleibt die Berliner Band Culcha Candela, die mit ihrem wilden Genremix aus Dancehall, Reggae und Hip-Hop mit deutschen Texten einen starken Kontrapunkt zum überwiegend besinnlichen Programm setzt. Das Quartett hat nur einen Auftrag: krass Party zu machen. Das gelingt Mateo, Johnny Strange, Chino und Don Cali, die von vier Kontinenten stammen, tierisch gut, oder besser: „Hamma“-mäßig. Auch mit „Monsta“ halten sie die Spaß-Stimmung hoch. Was soll’s, dass es trotz orchestraler Begleitung musikalisch keine Offenbarung ist: Es funktioniert. Auftrag erledigt.

Satte drei Stunden dauert das abwechslungsreiche Spektakel, das mit einer Reihe von Gänsehaut-Momenten aufwartet. Selten waren die Proms so harmonietrunken, stellenweise fast zu verhalten. Am Ende stehen alle gemeinsam auf der Bühne und intonieren die Coldplay-Hymne „A Sky full of Stars“. Nie war der Abschluss-Song trefflicher gewählt. Ein „bear-enstarker“ Proms-Jahrgang, einer der besten in den vergangenen Jahren. Leicht wird es nicht, ihn am 18. Dezember 2018 zu toppen.