Du sollst dir ein Retro-Bildnis machen: Rosy Albrechts „hier (und) in den 70ern“ gibt der Schau den Titel und der Zeit ihre Signatur. Foto: Roberto Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Kunst strebt nach Chaos. Aber Künstler mögen auch Ordnung. Solche Polarität prägt Epochenzäsuren und bisweilen Einschnitte, die mit dem Kalender zusammenfallen. Zum Beispiel zwischen den 1960er- und 70er-Jahren. „In den 60er-Jahren war die Kunst anti-autoritär, Institutionen wurden in Frage gestellt. Mit den 70ern folgte das Jahrzehnt der Kunstvermittlung und der Re-Institutionalisierung.“ Also sprach Christian Gögger - und kuratierte in der Villa Merkel für den Esslinger Kunstverein eine spannungsvolle Ausstellung, die just jene neuen „kunstitutionellen“ Gründerjahre als Dreh- und Angelpunkt nimmt. Ge- oder begründet wurde in jenem Dezennium unter anderem der Esslinger Kunstverein, die Villa Merkel als Galeriedomizil, die Kunststiftung des Landes und das Centre Pompidou in Paris. Das heißt: Klein und Groß zieht es nach den Ausbrüchen zurück in die museal nach außen gestülpte Innerlichkeit wohliger Institutionen.

Kleine Inseln des Sinns

Kunst wird Teil einer soziokulturellen Trendwende, zu der sich die Esslinger Künstlerin Rosy Albrecht ein Retro-Bildnis macht, dessen Titel auch der der Ausstellung ist - „hier (und) in den 70ern“. Graphik-Design im 70er-Abstraktionslook grundiert aufgepinnte Familien- und Menschenbilder samt Weisheiten à la „Mein Kind soll nicht in einer Ehe aufwachsen, die von vornherein nicht gut geht“. Das Private greift Raum und wird - ausgehend von einer These des Medienwissenschaftlers Werner Faulstich - zur Signatur eines Jahrzehnts der Suche nach „kleinen Sinninsel“ und der Abkehr von großen Utopien. Wobei das eingeklammerte „und“ des Werk- und Ausstellungstitels ironisch die Frage aufwirft, ob jene Zeit des neuen Biedermeier jemals vergangen ist.

Zumindest zielt Göggers kuratorische Strategie auf Esslinger Künstler- und Kunst-Kontakte zwischen den Zeiten: mit den 70ern, dem was davor war und was heute ist. In solchen nahzeiträumlichen Dialog tritt auch Matthias Kunischs „Sisyphos“-Zyklus, der in der Ausstellung Kleinplastiken des 1977 gestorbenen Otto Baum korrespondiert. Dessen skulpturale Kammermusik mit stilistischer Verwandtschaft zu Brancusi oder Henry Moore kontrapunktiert Kunisch mit paradoxer Monumentalität: Seine fünf Massive strahlen wie in weißem Carrara-Marmor und sind doch aus dem leichtesten aller Werkstoffe, aus Styropor. Zusammengefügt würden sie den Lendenwirbelbereich des ewig scheiternden Titelhelden ergeben, das Fragment also einer noch größeren Kolossalstatue. Tatsächlich sind sie aber auf Lücke gestellt. Und so fällt die Imagination ungeheurer Größe in die Leere der Zwischenräume wie der Stein des Sisyphos in den Abgrund: ein Sinnbild des Sinnlosen, aber Unvergänglichen.

Ein ganz anderes Souvenir unvergänglicher Kunst- und Künstler-Präsenz hat Benjamin Rayher gemalt, 1989 in Esslingen geboren, an der Düsseldorfer Kunstakademie ausgebildet, geprägt von Malern wie Lüpertz, Baselitz oder Immendorff. Seine „Esslinger Fasnacht“ ironisiert wie Immendorffs „Café Deutschland“ den Bildtyp von Renato Guttusos „Caffè greco“ von 1976, jene gemalte Versammlung von Künstlervorbildern im berühmten römischen Café. Bei Rayher kommt ein Moment freundlicher Narretei hinzu, wenn er Kunstgrößen der 70er mit Esslingen-Bezug ins Bild setzt: etwa Otto Herbert Hajek als Büste auf eigener Skulptur unterm Heiligenschein, daneben der Fotograf Dieter Blum, der Künstler Heribert Glatzel alias Friedland, der Galerist Hans Mayer und andere, vergegenwärtigend flankiert von einem Selbstporträt des Künstlers und einem strahlenden Oberbürgermeister Zieger.

Und dann kam die Polizei

Stellt Rosy Albrecht das Motiv der Ausstellung heraus, malt Rayher ihr Programm. Hans Mayers Esslinger Op-Art-Galerie von 1965 bis 1968 - nachhaltig dem Stadtgedächtnis eingebrannt durch Hajeks zu einem Polizeieinsatz führende Verwandlung der B 10 und weiterer Straßenzüge in „Farbwege“ - darf Revue passieren. Gezeigt werden Fotografien aus Dieter Blums Afrika-Serie von 1974 und eine Reihe der kostbaren, das Überwältigende ins Kleine und Feine bannenden Miniaturen des 2015 gestorbenen Friedland.

Um die 70er-Jahre-Zeitachse herum werden Koordinaten der Esslinger Kunstgeschichte gezogen, etwa mit dem 1974 erschienen ersten Album des Jazz-Bassisten Eberhard Weber als akustischem Gegenpart zu den Jazz-Bilder Volker Böhringers, unter Malverbot in den finsteren 40er-Jahren als Reminiszenz der scheingoldenen 20er entstanden. Werner Fohrer hat dann Rockstars der 70er-Jahre krachend ins Posterformat gemalt und doch den Fotorealismus durch Spiegelungen und vibrierende Bildwirkungen aufgebrochen.

Die Entstehung neuer Medienkunst kündigt sich bei Ulrich Bernhardt an, der kopiertes Bildmaterial vielschichtig überblendete und zeitkritisch zuspitzte. Ebenso bei den Mail-Artisten um Bernhardt und Jürgen Elsässer, die ihre neodadaistische Postkarten-Korrespondenz zur Kunstaktion erklärten. Extremistischen Aktionismus praktiziert Wolfgang Flatz, stets für einen Skandal guter Pionier der Body-Performance: Ein Video von einer Stuttgarter Aktion 1979 zeigt ihn, wie er sich mit Dartpfeilen bewerfen lässt. Ein Pionier anderer Art ist Manfred Kage, der mit aufwendiger analoger Apparatur vor über 40 Jahren die Pforte in die später digitalen Bildwelten öffnete.

In aller Vielfalt brechen sich in Göggers Ausstellung wie in einem Zeit-Prisma Vergangenheit, Wiederkehr und Fortdauer. Die Ausstrahlung auf die Gegenwart bringt Ulrike Flaig vielleicht am Schönsten zur Anschauung: Sie hat Adolf Fleischmanns abstraktes Bild „Opus #19“ von 1954 in eine dreidimensionale Installation übertragen, damit zeitlichen Abstand und künstlerische Annäherung wirkungsvoll in den erfahrbaren Raum gestellt.

Bis 29. Oktober. Öffnungszeiten: dienstags 11 bis 20 Uhr, mittwochs bis sonntags 11 bis 18 Uhr. Führungen mit dem Kurator Christian Gögger beginnen morgen sowie am Sonntag, 22. Oktober, jeweils um 15 Uhr.

Am kommenden Donnerstag findet der Themenabend „Über die Farbwege in die Villa Merkel bis zur Kunst im Verein“ mit dem Künstler Uli Bernhardt, dem Journalisten Friedhelm Röttger, früherer Feuilletonchef unserer Zeitung, und dem Kurator Christian Gögger statt. Beginn ist um 19 Uhr in der Vila Merkel.

Am kommenden Samstag, 14. Oktober, 20.30 Uhr, singt das Vokaloktett Incantations im Rahmen der Ausstellung Musik von Bach, Schütz, Buchenberg, Gjeilo und anderen.