Koks-Party in Auerbachs Keller: Szene aus Ryan McBrydes „Faust I“-Inszenierung mit (vorne von links) Christoph Bangerter als Mephisto und Tilmar Kuhn als Faust. Foto: Sabine Haymann Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Stuttgart -„Du lieber Gott! Was so ein Mann nicht alles denken kann.“ Gretchen ist von Herrn Faust schwer beeindruckt, und sie wäre vermutlich auch very amused von dem, was Mister Ryan McBryde sich so alles hat einfallen lassen bei seiner „Faust I“-Inszenierung, die jetzt am Stuttgarter Alten Schauspielhaus Premiere hatte. Der junge Brite hat eine erfrischend unkonventionelle und hoch aktuelle Lesart dieses deutschen bildungskanonischen Schwergewichts vorgelegt. Gut zweieinhalb Stunden spannt der Regisseur bei seiner jüngsten Arbeit an den Stuttgarter Schauspielbühnen seinen im Techno-Rhythmus pulsierenden Bilderbogen, präzise getimt und intelligent choreografiert - und schält dabei so locker, so leicht des Pudels Kern aus Goethes Paradeparabel auf den rast- und ruhelosen Erkenntnis- und Lustsucher, dass man meinen könnte, alles sei Boulevard. Und das ist es hier auch.

McBrydes Faust ist, kaum der Altersfalle entkommen, ein moderner Flaneur der beschleunigten Waren-, Informations- und Zerstreuungswelt, ein im Konsumgetriebe gefangener Narzisst und Hedonist, der sich auf der Überholspur rücksichtsloser Selbstverwirklichung übernimmt und schließlich zum Therapiefall wird. Scharfsinnig, smart, sinnlich, stringent ist das gezeichnet - kurz: ein sehenswertes Porträt eines selbstsüchtigen Getriebenen vor dem Herrn.

Der Herr ist eine Herrin

Der tritt hier, theologisch cross-gender-korrekt, als Herrin auf den Plan, die im Stile einer Sektenanführerin über eine obskure Jüngerschaft gebietet. Die vermummten Gestalten, die aus einer in die Wand eingelassenen Öffnung den lichtdurchfluteten Bühnenraum betreten und den Selbstentgrenzungsmaniker Faust vom Suizid abbringen, tragen österliche liturgische Gesänge auf den Lippen; auf den Köpfen tragen die weißen Kuttenträger Spitzhüte, die sie unschwer als Mitglieder eines rassistischen Geheimbundes ausweisen.

McBrydes Ausstatterin Sarah Beaton hat die Bühne in eine aseptische Labor- und Transitzone verwandelt. Auf der linken Seite hat Faust in der nächtlichen Szene seinen ersten Auftritt. Die Regale seiner Studierstube sind vollgemüllt mit Folianten, Exotica, ausgestopften Tieren, Knochen und Schädeln - ein Universalgelehrten-Sammelsurium, halb Bibliothek, halb Naturkundemuseum.

Die einleitende Frustrede spricht Faust in eine Webcam. Und in Castorf-Manier wird im Folgenden das Drama vom Regisseur in einen mitreißenden Bilderstrudel überführt. Das ist überzeugend gemacht, die Szenografien im Kinoformat illustrieren Goethes Vers-Blockbuster, ohne dass die geballte Pop- und Assoziationsästhetik den literarischen Fluss, der von McBryde in schlackenlose Bahnen gelenkt wird, beeinträchtigen würde.

Kaum ist das Forscher-Kabuff beiseitegeschoben, geistert auch schon Mephistos mobiles Geistereinsatzkommando durch den Raum. Zur Verjüngungskur schickt McBryde seinen Faust, anfangs noch ein leicht ungepflegt wirkender Professor mit Hornbrille, speckigem Langhaar und zerzaustem Bart, in den Salon eines Schönheitschirurgen. Die Botox-Therapie wirkt smarte Wunder: Der mausgraue Akademikerverschnitt verlässt den Wellness-Tempel als cooler Juniorprofessor.

Unheile Plattenbauwelt

Stylisch frisiert, mit dunkelrotem Slim-Fit-Anzug, Einstecktuch und Sonnenbrille - so zieht Faust mit Mephisto um die Häuser. In einer der bühnenfüllenden Plattenbauprojektionen ist offenbar Gretchen zuhause. Nach dem Vorglühen in der Hexenküche wird in Auerbachs Keller gezecht, gefummelt und am Billardtisch straight über Bande gekokst. Der Besuch Gretchens in prekären Wohnverhältnissen offenbart familiäre Tristesse - die Mutter sitzt im Rollstuhl, Bruder Valentin musste zur Bundeswehr. Nebenan hat Marthe Schwerdtlein ihr Witwen-Schicksal als Punk-Lady mit Vorliebe für Leoparden-Designs aufgehübscht.

Die Gartenszene, in der Faust (selbstbewusst, aber etwas herb artikulierend: Tilmar Kuhn) und Gretchen (wunderbar fein fühlend, innig, berührend: Katharina Paul) anbandeln, zoomt McBryde disneymäßig auf. Man sieht die beiden beim Besuch eines Vergnügungsparks mit 3-D-Brillen im Planetarium turteln, vergnügt durch die Lüfte schaukeln und verliebt durch Unterwasserwelt-Illusionen stromern: eine - auch als selbstironische Theaterästhetik - gelungene Trivialkinocollage, nach der die grellen Dröhnungen des LSD-Walpurgisnacht-Trips nur noch verstörender wirken.

Im Finale wartet Klapse statt Kerker - auch für Faust. Die Prognose für ihn: eher ungünstig. Die liebe Göttin ex machina (Alexandra Marisa Wilcke) und der böse Herr Mephisto (schön geschmeidig sinister: Christoph Bangerter) haben offenbar auch einen Pakt geschlossen.

Vorstellungen bis 29. April täglich außer sonntags um 20 Uhr.