Die schöne Symmetrie der Gemeinschaft blitzt in Jirí Kyliáns „One of a Kind“ nur momentweise auf. Hier liegt die Protagonistin (Miriam Kacerova) verzweifelt vorne an der Bühnenrampe. Foto: Stuttgarter Ballett - Stuttgarter Ballett

Der große Choreograf stellt in seinem abendfüllenden Ballett eine eher philosophische als politische Betrachtung über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft dar.

StuttgartEs ist eine von uns, die sich da suchend aus dem Zuschauerraum auf die Bühne begibt: Eine Frau steigt aus der ersten Reihe über die Brüstung auf einen weißen, unebenen Steg und tastet sich vorsichtig über den Orchestergraben im Stuttgarter Opernhaus. Das gesamte Stück lang, auch in den beiden Pausen, wird die Tänzerin Miriam Kacerova auf der Bühne bleiben. Ihren einsamen Weg in eine Gemeinschaft, ihre Versuche der Adaption und Kommunikation, ihr Scheitern und ihren Stolz sehen wir in „One of a Kind“, mit dem der große Choreograf Jirí Kylián nach Stuttgart zurückkehrt.

Die Rückkehr ist ganz wörtlich gemeint: Kylián, der im August 1968 hier in John Crankos Kompanie als junger Tänzer anfing, war jetzt knapp zwei Wochen da und arbeitete mit den Stuttgarter Tänzern. Sein Stück stammt aus dem Jahr 1998 und war ein Auftragswerk der niederländischen Regierung ans Nederlands Dans Theater, um den 150. Geburtstag der Landesverfassung zu feiern. Statt einer politischen Manifestation ist „One of a Kind“ – übersetzt „einmalig“ oder „einzigartig“ – eher eine philosophische geworden, ein in seinem oft zögernden Tempo nachdenkliches, abstraktes Werk, in dem das durchweg großartige Ensemble der Stuttgarter Tänzer nur selten in wilden, freien Flügen über die Bühne wirbelt.

Harmonische Bilder nach dem Schock

Vor einer Landschaft aus weißen Zacken begegnet die Protagonistin zunächst einzelnen Menschen, kopiert manchmal fast unbewusst eine Bewegung, beobachtet und hält sich am Rand. Ein Mann nimmt Kontakt auf, aber kaum begibt sie sich in die Beziehung zu einem anderen Individuum, fällt die Gemeinschaft in einer (sehr abstrakten) Vergewaltigungsszene über sie her. Nach dem Schock entwickeln sich langsam neue, harmonischere Bilder, der erste Teil endet mit einer angedeuteten Annäherung der Frau.

Kylián ist kein Erzähler, man kann den ganzen Abend genauso gut als abstrakte Folge von wunderbar fließend choreografierten Solos und Duos anschauen. Das futuristische Licht, die abstrakten Bühnenelemente des Architekten Atsushi Kitagawara und die farblich zurückhaltenden, stark auf Individualität angelegten Trikots von Joke Visser entrücken das Stück in eine abstrakte Eleganz. In einer musikalischen Landschaft aus Madrigalen, Naturlauten, moderner Musik und Elektronik, faszinierend zusammengestellt von Brett Dean und immer wieder von den herb singenden Live-Einsprengseln des Cellisten Francis Gouton belebt, stellt der Choreograf grundsätzliche Fragen nach der Freiheit des Individuums in der Gruppe, zeigt seine Protagonistin hin- und hergerissen zwischen ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit und Teilnahme an der Gemeinschaft. Wir sehen Angst und Selbstbehauptung, Mechanismen der Adaption, wir sehen vor allem ihre Einsamkeit.

Ein weißes Segel und ein mit der Spitze nach unten kreisender Kegel hängen in Bauhaus-artiger Abstraktion über dem zweiten Teil: Papier und Stift, mit denen Menschen sich eine Verfassung geben? Zu Percussion-Rhythmen wirbeln Einzelne in grenzenloser Freiheit dahin, die Protagonistin wagt sich jetzt in die parallele Übereinstimmung einer Dreiergruppe, wird dann aber symbolisch aufgespießt vom kreisenden Kegel und wieder körperlich attackiert. Zerbrochen strandet sie vorne am Proszenium. Mit heftigen Kicks und weiten Sprüngen erobern die anderen in einer Folge schneller Solos den Raum, bevor hinten eine bedrohliche Menschenmasse erscheint. Raffiniert macht Lichtdesigner Michael Simon auch sie zu einem Wald aus Einzelnen, eine echte Gemeinschaft gibt es in Kyliáns Stück nicht.

Einsamkeit ohne Angst

Im letzten Teil testet die Frau, das höchste ihrer integrativen Gefühle, ganz kurz das Einfügen in ein Quartett aus. Zwei Vorhänge aus schimmernden Metallfäden bilden dann einen warmen, fruchtbaren Regen, unter den sie sich empfangend legt – und gleichzeitig einen Käfig, dessen Stäbe durch ihren Körper stoßen. Vier unterschiedliche, innig getanzte Duos lassen sie noch einmal lange über den Sinn des Sich-Einfügens nachdenken, bevor sie schließlich eine steile, dreigeteilte Treppe hinauf entschwindet: so einsam, wie sie gekommen war, aber nun ohne Angst.

Als zentrale Figur zeichnet Miriam Kacerova vor allem die natürliche Würde aus, mit der sie sich, ob in Verzweiflung oder Stolz, durch den Abend bewegt. Jason Reilly und Martí Fernández Paixà sind ihre geschmeidigen, expressiven Partner, für Elisa Badenes ist das Hineinschmiegen in Kyliáns fließende Bewegungen genau der perfekte Stil. Wie der ganze Rest des großen Ensembles werfen sich Alessandro Giaquinto und Fabio Adorisio mit einer rasanten Kombination aus Eleganz und Freiheit in ihre Bewegungen.

„One of a Kind“ ist kein leichtes Ballett, man muss gut hinschauen und die Unterschiede in den Solos und Duos erkennen wollen. Jirí Kylián macht es uns nicht einfach, manchmal fällt man fast willenlos der Faszination seiner Tanzsprache anheim. Kaum ein moderner Choreograf stellt wie er die freie Schönheit des tanzenden Menschen heraus, wenn er zwei oder drei Körper zu einer perfekten, Sekunden dauernden Statue zusammenfließen lässt, wenn er inmitten des Kampfes um Individualität die schöne Symmetrie der Gemeinschaft aufblitzen lässt, als wäre sie in unserem Erdendasein vorgesehen. Nach dem Prager Frühling 1968 war Kylián selbst lange Zeit ein Staatenloser: Der schmerzliche Blick des Außenstehenden prägt dieses Ballett.

Weitere Aufführungen: 26. Februar, 2., 3., 9., 10., 16., 19., 23., 30. und 31. März.