Im Käfig, aber keine Opfer Foto: Björn Klein - Björn Klein

Vom deutschen Idealismus zum deutschen Nationalismus: Diesen Weg nimmt der aus Zitaten hehrer Dichter und Denker kritisch montierte Textstrom von Elfriede Jelineks Stück „Wolken.Heim.“. Die Regisseurin Friederike Heller und die drei Akteurinnen verleihen den Stromschnellen aus Worten packende Kraft.

StuttgartNoch schaut das Publikum dank Spiegel auf sich selbst und hört in die wütende Suade einer offenbar unserer Gegenwart entsprungenen Frau hinein: einer jungen Wutbürgerin, die sich selbst noch finden muss, einer, die es gut hat dank wohlsituierter Familie. Sie schwadroniert von „Mama Heimat“ und dann aggressiv: „Warum bitte sind all diese fremden Leute, die wir nicht persönlich kennen, die sich selber mitsamt den Wurzeln ausgerissen haben, warum bitte sind die überhaupt da?“ Später wird sie als Hochschwangere in grüner Wohnzimmeroase „Landlust“ lesen, das Wohlfühlmagazin für die naturbewusste Städterin.

Aber zunächst verschwindet die Bühnen-Verspiegelung im Stuttgarter Kammertheater mit einem Schlag. Ein wirkungsvoller Effekt, denn dahinter tun sich drei Käfigzimmer auf, und drei weitere Frauen haben das Wort: „Da sitzen wir. Heilige, die im Dunkel leuchten.“ Geister der Vergangenheit: Eine Hausfrau um die 50 im Blümchen-Kittel mit Lockenwicklern in den Haaren (Christiane Roßbach) hockt Kartoffel schälend in ihrer 50er-Jahre Küche. Daneben eine Joint rauchende, Schallplatten abspielende Mittdreißigerin im Flower-Power-Outfit der 70er (Therese Dörr). Die junge Frau (Celina Rongen) im letzten Kasten schließlich tippt vom Sitzsack aus auf ihrem Atari 1040 STE herum – unverkennbar in den 90ern. Und jetzt geht es ab im Quartett, kommt der Riesenmonolog „Wolken.Heim.“ von Elfriede Jelinek samt seinem später entstandenen Epilog „Und dann nach Hause“ so richtig in Fahrt.

An Aktualität noch gewonnen

„Wolken.Heim.“ entstand 1988. Der Text hat bis heute an Aktualität noch gewonnen. Ein komplexer, dichter Sprachstrom, der bei Jelinek vom deutschen Idealismus direkt zum deutschen Nationalismus fließt. Dazu montiert sie eine Menge Zitate von Hölderlin, Kleist, Fichte und Hegel, außerdem Heidegger. Als Kontrapunkt (oder Ideologiekritik?) setzt sie Passagen aus Briefen in Stammheim inhaftierter RAF-Mitglieder dazwischen. Die Zitate wurden verfremdet, verändert, zerstückelt und neu zusammengesetzt zu einem virtuosen, sprach- und gesellschaftskritischen Textkonstrukt, das sich in einem immer unerträglicher werdenden chauvinistischen Heimat- und Identitätsdiskurs entlädt und nationalistische Parolen, Fremdenhass und das Gift nationalsozialistischer Ideologie nur so versprüht – alles befeuert vom festen Glauben, selbst Opfer zu sein. „Jetzt sind wir zuhaus“, heißt es immer wieder refrainartig und in unzähligen Varianten – etwa „Wir sind hier. Dort sind die andern.“

Keine individuellen Stimmen äußern sich hier, sondern ein lautstarkes „Wir“. Im Original gibt es keine Rollenzuweisung, keine szenische Anweisung. Wie man diese durchkomponierte Textfläche auf der Bühne umsetzen soll, ließ die Autorin offen (O-Ton Jelinek: „Das ist mit sowas von egal!“). Der Regisseurin Friederike Heller ist in Stuttgart eine sehr kluge, formal überzeugende, unmittelbar packende Inszenierung gelungen, die den Text fasslich macht und die ihre Stärken auch in einer klaren Bildlichkeit hat (kongenial: Kostüm- und Bühnenbildnerin Sabine Kohlstedt).

Das wird dort auf der Bühne, wo man durch Maschendrahtzäune getrennt nebeneinander haust, glasklar: dass solches Gedankengut vor allem aus der Isolation, aus der Einsamkeit, aus irrationalen Ängsten heraus Wurzeln schlagen kann. Mit theatraler Power skandieren die vier Frauen den Text mal solo, mal im Dialog, mal im Chor, mal im zackigen Wechsel sich ergänzend.

Identität mit geliehener Sprache

Eine Identitätssuche, die sich nicht der eigenen, sondern einer fremden, geliehenen Sprache bedient, ist per se paradox. Heller fügt eine weitere Verfremdung hinzu, indem sie die vorwiegend aus männlicher Feder stammenden Bausteine der Textcollage Frauen in den Mund legt. Gepaart mit dem „hohen Ton“ Hölderlins und weiterem Pathos erreicht sie damit ein Höchstmaß an Distanz. Das ist wirklich entlarvend komisch, wenn die Frau in der Küche beim Kartoffelschälen Hegel mit Hölderlin mixt: „Schön bei sich sein und bleiben, und es trinken himmlisches Feuer jetzt die Erdensöhne und kommen zu uns ins öde Haus.“

Die Frauen sind hier keineswegs Opfer ihrer Zeiten, sondern mischen bei der Stärkung der Systeme und Ideologien kräftig mit, sind am Ende mitverantwortlich am eigenen Untergang. Wie ein ironischer Regieschlenker verdeutlicht: Die Frau verlässt ihren 50er-Jahre-Käfig und stürzt sich – jetzt ohne Lockenwickler – zum Liebestod-Sehnen aus Wagners „Tristan“ in Richtung einer hell strahlenden Tür. Vielleicht in die Arme eines neuen Führers?

Der Platz in der Nachkriegsküche ist jedenfalls nun frei für die Schwangere aus der Jetztzeit (Josephine Köhler), deren rückwärtsgewandtes Gesellschafts- und Frauenbild besser dorthin passt als ins Heute. Sie gebärt überm Küchentisch, aus ihrem dicken Bauch quillt Erde, Grabeserde, die schon die Böden der drei Zellzimmer bedeckte. Gerade hatte sie sich in unverkennbar aktuell eingefügten Tönen echauffiert – Zitaten aus dem Parteiprogramm der AfD zur Familienpolitik und O-Tönen Alice Weidels: Unser Wohlstand könne nur gesichert werden durch sichere Grenzen. Das fügt sich nahtlos ein in den nationalistischen Redeschwall wider eine offene, vielfältige Gesellschaft und führt zum bedrückenden Ende: „Damit kein Fremdes uns stört. Laßt uns unter uns!“

Die nächsten Vorstellungen: 3., 4., 5. und 7. Juni, 17. und 18. Juli.