Das griechische Seniorentheater Kinitras zeigt beim Esslinger Festival „Eros und Psyche“ nach dem antiken Mythos. Foto: Eleni Taxeri - Eleni Taxeri

Das europäische Seniorentheaterfestival stAGE!, das am 16. Mai in Esslingen beginnt, wird mit sieben Inszenierungen aus sechs Ländern einige Vorurteile widerlegen.

EsslingenGanz so alt wie die Esslinger Landesbühne (WLB), nämlich 100 Jahre, sind die Teilnehmer des europäischen Seniorentheaterfestivals stAGE! nicht. Überhaupt lassen die Akteure nicht sich selbst, sondern manches Klischee alt aussehen, verspricht Daniela Urban. Die 42-jährige Theaterpädagogin und Regisseurin koordiniert das stAGE-Festival, das an diesem Donnerstag in Esslingen beginnt und zum Jubiläumsprogramm der WLB in ihrem runden Geburtstagsjahr zählt. 39 Bewerbungen aus 19 Ländern gingen beim Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT), dem Veranstalter des Festivals, ein. Bis Sonntag sind sieben ausgewählte Inszenierungen aus sechs europäischen Ländern zu sehen. Mit unserer Zeitung sprach Daniela Urban über die Faszination des sogenannten Seniorentheaters und das Engagement seiner Amateurschauspieler.

Frau Urban, was motiviert Senioren zum Theaterspielen?
Gegenfrage: Warum glauben wir automatisch, dass Senioren ihr Leben in den Schrank hängen? Theaterspielen ist der Schritt in eine Aktivität, die während der Berufstätigkeit oft nur eingeschränkt möglich war. Man hat mehr Zeit, sich selbst in einem neuen Kontext auszuprobieren. Andere fangen zu malen an, beim Theater hat man den Austausch mit anderen. Da tun sich völlig neue Erfahrungshorizonte auf. Viele Senioren spielen auch in generationenübergreifenden Spielclubs. Das ist gesellschaftlich interessant, weil da eine Nähe zwischen den Lebensaltern zustande kommt, die es sonst kaum noch gibt. Die Großfamilie mit drei Generationen unter einem Dach ist ja aus unserer Gesellschaft fast vollständig verschwunden. Andere Senioren wollen als Theaterspieler ganz gezielt in ihrer Altersgruppe zusammenbleiben.

Prägen sich im Seniorentheater besondere Themen heraus?
Eine häufige und naheliegende Form ist das Biographie-Theater. Das entsteht aus dem Bedürfnis, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren und mit anderen zu teilen. Dieser Reichtum an Selbsterlebtem hat nicht nur eine subjektive Bedeutung, sondern kann Menschen jüngeren Alters oder mit anderer Biographie die Unterschiede von Lebensgeschichten – auch vor einem veränderten zeitgeschichtlichen Hintergrund – aufzeigen. Ein Beispiel dieser Theaterform bringt die Sighnaghi-Gruppe aus Georgien zum Esslinger Festival mit: In dem Stück geht es um zwei ältere Leute, die zwei Jüngere aus der Kinder- oder Enkelgeneration beherbergen und mit ihnen ihre sehr verschiedenen Erfahrungen austauschen. Aber es gibt natürlich im Seniorentheater auch ganz klassische Stoffe, zum Beispiel Romeo-und-Julia-Geschichten, die einen Raum und einen Nachklang schaffen für etwas, das man im wirklichen Leben vielleicht so ähnlich, vielleicht aber auch gar nicht erlebt hat. Das alles ist so individuell wie die Teilnehmer, die sich in ihren Spielgruppen auf einen Stoff und eine Darstellungsform einigen. Theater ist bekanntlich kein demokratisches Medium, aber im Seniorentheater geht es vergleichsweise demokratisch zu.

Zeigen sich bei der Themenwahl deutliche nationale Unterschiede?
Dass die Gruppe Otpad aus Estland Samuel Becketts „Was Wo“ spielt, ist sicher kein Zufall. Man kann das Stück auf eine staatlich streng kontrollierte Gesellschaft und damit auf die nahe Vergangenheit Estlands beziehen, das bis 1991 zur Sowjetunion gehörte. Die Akteure haben diese Zeit erlebt und waren damals schon erwachsen. Insofern gehört das auch zum Biographie-Theater mit einer Botschaft an jüngere Leute. Andererseits gastiert das Teaterrodderne aus Dänemark mit einem pantomimischen Clownstück. Es wäre sich vermessen, darin etwas typisch Dänisches sehen zu wollen.

Nach welchen Kriterien wurden die eingeladenen Inszenierungen ausgewählt?
Viele der 39 Bewerbungen sind traumhaft schön gearbeitet. Sie wirken sehr authentisch und professionell. Bei der Auswahl wollte die vom BDAT eingesetzte Jury eine möglichst große Bandbreite zeigen, es sind Theatertexte, Filmadaptionen und Stückentwicklungen dabei. Und die Bearbeitung eines antiken Stoffs aus Griechenland. Die Auswahl orientiert sich auch daran, was typisch ist für ein Land.

Geht man da nicht Klischees auf den Leim?
Das würde man der Behandlung der Stoffe anmerken. Außerdem kann das Spiel mit Klischees eine eigene Theaterform sein, ohne in Kitsch abzugleiten.

Wie alt sind die Akteure?
Wir haben das nicht abgefragt. Ich würde schätzen, dass die meisten zwischen 65 und 85 sind.

Ab wann sieht man sich denn als Senior?
Entscheidend ist nicht das Alter, sondern die Lebenssituation. Die meisten Teilnehmer sind alle nicht mehr berufstätig. Man muss aber ganz klar sagen, dass Jüngere sehr viele Vorurteile haben: Der Blick der nachfolgenden Generationen auf die Senioren ist sehr seniorenhaft. Tatsächlich sind die Menschen, die hier auf der Bühne stehen, sehr kraftvoll und bisweilen geradezu wild mit ihrer Wucht an Lebenserfahrung, die sie mitbringen.

Ein Hintergrund des Festivals ist das „gefährdete Europa“. Folgt daraus eine politische Botschaft?
Die Gruppen machen die teilweise sehr weite Reise nach Esslingen nicht nur aus Eitelkeit. Ihnen geht es um Austausch, um europäische Verständigung und Zusammenhalt. Die Teilnehmer gehören Generationen an, die Kriege, Abschottung und Repression entweder selbst erlebt oder in weiten Teilen Europas mitbekommen haben. Die haben uns viel zu sagen, nämlich dass Wohlstand, Freiheit und Frieden keineswegs selbstverständlich sind, auch wenn wir im westlichen Europa uns daran gewöhnt haben. Die politische Botschaft bildet zwar nicht den Fokus der Theaterstücke, aber allein die Anwesenheit der Gruppen in Esslingen sendet ein deutliches Zeichen.

Was sollte man unbedingt anschauen?
Alles. Es wäre ungerecht, eine Inszenierung hervorzuheben. Ich habe aber einen anderen Tipp: Keine Angst vor fremdsprachigen Aufführungen! Durch Körpersprache, Mimik und Gestik sind alle Stücke verständlich, auch wenn man die Worte nicht versteht.

Das Interview führt Martin Mezger.

Donnerstag, 16. Mai

19 Uhr, WLB-Schauspielhaus: Eröffnung; ab 19.30 Uhr: Teaterrodderne (Dänemark) mit „Stiller Lärm“ von Folmer Kristensen und dem Ensemble

Freitag, 17. Mai

10 bis 16 Uhr, Studio am Blarerplatz: Festival-Labor mit Studenten der Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig

16 Uhr, Kulturzentrum Dieselstraße: Sighnaghi Theater (Georgien) mit „Jemand ruft“ von Tamaz Bibiluri

18 Uhr und 19 Uhr, Central-Theater: Otpad (Estland) mit „Was Wo“ von Samuel Beckett

20.30 Uhr, WLB-Schauspielhaus: Seniorenclub Ü61/Junges Theater Solothurn (Schweiz) mit „Gate 11“ von Barbara Grimm, Gisela Weismann und dem Ensemble

Samstag, 18. Mai

10 bis 16 Uhr, Studio am Blarerplatz: Festival-Labor

14.30 Uhr, WLB-Schauspielhaus: Seniorenspielclub der WLB Esslingen mit „Sigrid warf mit Tomaten“ von Barbara Brandhuber und dem Ensemble

17 Uhr, Kulturzentrum Dieselstraße: Kinitras (Griechenland) mit „Eros und Psyche“ nach dem antiken Mythos

19.30 Uhr, WLB-Schauspielhaus: Seniorentheater in der Altstadt (Düsseldorf) mit „I hired a Contract Killer“ nach dem Film von Aki Kaurismäki

Sonntag, 19. Mai

10 Uhr und 11 Uhr, WLB-Schauspielhaus: Europe Speed Dating 2019. Interaktive Performance an sechs Stationen zu den Themen „Theaterspielen im Alter“ und „Wie europäisch fühle ich mich in einem gefährdeten Europa?“ mit Ensemblemitgliedern aus sechs Ländern.

Workshops zu verschiedenen Themen finden am Freitag und Samstag in der Musikschule am Blarerplatz und im Gemeindehaus Laterne bei der Stadtkirche statt. Weitere Informationen unter www.seniorentheater-bw.com

Karten gibt es an den jeweiligen Veranstaltungsorten.