Von Verena Grosskreutz

Stuttgart -Ein Kinderkonzert? Nein, die kleinen bunten Plastikvögel, die am Stand der Konzertdirektion Russ im Foyer der Liederhalle ans Publikum verteilt werden und auf denen man, hat man Wasser hineingefüllt, prima herumzwitschern kann, sollen später im Konzert des Colombian Youth Orchestras zum Einsatz kommen, also im Rahmen eines eigentlich bierernsten Klassikkonzerts. Das kolumbianische Jugendorchester, das über 100 16- bis 24-jährige angehende Profimusiker und -musikerinnen vereint, hat gerade seine erste Europa-Tournee gestartet. Und diese leitet niemand Geringeres als Andrés Orozco-Estrada, der sich - selbst vor 39 Jahren in Kolumbien geboren - längst an die Weltspitze dirigiert hat und derzeit Chef der Houston Symphony und des Orchesters des Hessischen Rundfunks ist.

Der sympathische Plauderer erklärt dem Publikum dann auch, wann und wie es zu zwitschern hat im Orchesterstück „Wildes Amerika“ des peruanischen Komponisten Jimmy López. Und das macht Orozco-Estrada - als polyglotter Weltmann - natürlich auf Deutsch. Dass er auch mit den vielen jungen Leuten auf der Bühne gut kann, wundert da nicht, zumal er ein äußerst plastisches Dirigat pflegt: Er schlägt kraftvoll und zackig den Takt, schäkert, schwingt die Hüften, spielt musikalische Gesten detailliert vor - feingliedrig, hochkonzentriert, athletisch. Und die jungen Frauen und Männer - alle in schwarzen Anzügen und mit schwarzen Chucks an den Füßen - folgen ihm: mit Elan, Einfühlungsvermögen, rhythmischer Verve und viel, viel Streicherschmelz. Letzteres natürlich vor allem in der „Seelenbeichte“ Tschaikowskys: in seiner fünften Sinfonie, in der der Komponist wie immer die „Macht des Schicksals“ in Töne zu fassen suchte. Es gelingt dem Orchester in der Leitung Orozco-Estradas ganz vorzüglich, den großen Bogen zu spannen, die musikalische Logik deutlich zu machen, die die melodischen und rhythmischen Keimzellen des Beginns zwingend in den dramatischen Fluss überführen. Dank brillanter Bläser bricht das Schicksal immer dringlicher ins Geschehen - ob aggressiv und jäh ins elegische Andante oder ob pianissimo als düstere Erinnerung in die verspielten Walzer-Klänge.

Ein sehr gutes Jugendorchester sitzt da auf der Bühne - offen für Neues und mit Spaß an den Effekten, mit denen Jimmy López sein „Wildes Amerika“ garniert hat: Auf Okarinas und Muschelhörnern blasend schreiten sie durch den Beethovensaal auf die Bühne, wo sich bald über nervös bewegten Streicherflächen hymnische Bläserchoräle erheben. Und einen Stargast hat man auch zu bieten: Daniel Müller-Schott, der sein Luxuscello nicht nur in Max Bruchs „Kol Nidrei“ mit herrlich sonorem Ton singen lässt, sondern auch in Tschaikowskys Variationen über ein Rokoko-Thema alle Vorzüge seines Instrumentes zum Klingen bringen kann - sieht man einmal ab von gewissen intonatorischen Heiserkeiten, die durch grazil-virtuoses Gewusel in der höheren Lage entstehen. Das Orchester begleitet ihn derweil mit viel Gefühl für die Lautstärkenverhältnisse und mit wunderbaren solistischen Einlagen. So scheint das Publikum restlos glücklich, und entsprechend euphorisch ist der Beifall.