Gustav Mesmer demonstriert in Buttenhausen sein Flugfahrrad. Quelle: Unbekannt

Von Peter Stotz

Die große Landesausstellung „Die Schwaben. Mythos und Marke“, die zuletzt im Landesmuseum im Alten Schloss in Stuttgart zu sehen war, versuchte, dem „typisch Schwäbischen“ nachspüren und dabei aufzuzeigen, dass sich der Markenkern eben nicht in Spätzle und Kehrwoche erschöpft. Viele Exponate führten dabei auf die Spur der Schaffer und Schrauber, der Grübler und Visionäre, deren Werk über den Tag hinausreicht. Auch eines der Flugräder von Gustav Mesmer war zu bestaunen. 1903 geboren, mit nur rudimentärer Schulbildung, war er 35 Jahre lang als Sonderling weggesperrt in psychiatrischen Anstalten. Zwischen 1964 und 1993 lebte er in einem Altenheim in Buttenhausen im Lautertal. Dort kam seine Genialität als Erfinder und Tüftler, Zeichner, Poet, Visionär und kreativer Konstrukteur von Flugapparaten und Sprechmaschinen zum Tragen.

„Kannst du einmal fliegen! // steig auf einen Hügel // Steig in die Höhe // Ach wär Dies für Dich so schön // so frei sein wie die Vögel // auch den letzten Raum der Erde // zu passieren bei Sonnenschein // Wie blühender Natur.“

„Gustav Mesmer war vielleicht ein bisschen ein Spinner, aber ein liebenswerter, kreativer, mit ungeheurem Schaffensdrang“, beschreibt Stefan Hartmaier den Autor dieses Gedichts, der in seinen letzten 30 Lebensjahren mit einem künstlerischen Werk von kaum überschaubarem Umfang und mit phantasievollen und kreativen Erfindungen verblüffte.

„Bedeutendes künstlerisches Erbe“

Stefan Hartmaier und Martin Mangold, Inhaber einer Agentur für visuelle Kommunikation und Gestaltung, sind die Vorstände der Gustav-Mesmer-Stiftung. 1996, zwei Jahre nach Mesmers Tod gegründet, kümmert sich die Stiftung um das Werk von Gustav Mesmer, ordnet und archiviert den schriftlichen Nachlass sowie die Fülle der Zeichnungen und restauriert seine Konstruktionen - Flugräder und Schwingen, Sprungschuhe, Musikinstrumente und Sprechmaschinen. „Wir haben mit Gustav Mesmers Werk ein bedeutendes künstlerisches Erbe, das wir für kommende Generationen bewahren müssen“, erklärt Hartmaier.

Gustav Mesmer - so manchem älteren Einwohner des kleinen Dorfs Buttenhausen im Lautertal dürfte der freundliche ältere Mann mit grauem Bart noch in Erinnerung sein. Knapp 30 Jahre lang hat Gustav Mesmer dort in einem Altenheim gelebt, und es waren wahrscheinlich die glücklichsten Jahre seines langen Lebens. In Buttenhausen war er wohl gelitten und anerkannt, gut geborgen in der Dorfgemeinschaft, gefragt wegen seiner Fertigkeiten als Korbflechter, wenngleich auch so manches Mal belächelt oder mit einem verwunderten Kopfschütteln begleitet, wenn er eine seiner Erfindungen einem Praxistest unterwarf.

Denn Gustav Mesmer hatte eine Vision: Es musste möglich sein, mit reiner Körperkraft und unkomplizierten technischen Hilfsmitteln die Schwerkraft zu überwinden und den Vögeln gleich die Distanz zwischen zwei Ortschaften fliegend zu überwinden. Dafür ersann er Flugapparate, die auf einfachen Konstruktionsprinzipien basierten. Grundlage war zumeist ein altes Damenrad, auf das ein Trägerrahmen aus Latten gesetzt wurde. Daran wiederum wurden Schwingen mit hölzernem Rahmen befestigt, bespannt mit Plastikfolie. Die Geschwindigkeit, die mit dem Fahrrad erreicht wurde, gepaart mit einer ausgefeilten Tragflächenkonstruktion, sollte ausreichen, den Boden hinter sich zu lassen, „auch den letzten Raum der Erde zu passieren“.

Die Grundlage für Mesmers unermüdlichen Drang, Flugfahrräder zu bauen, immer ausgeklügeltere Formen und Funktionsdetails für Tragflächen und Schwingen zu ersinnen und zu konstruieren, ist in seiner Lebensgeschichte zu finden. Gustav Mesmer wird im Jahr 1903 in dem kleinen Ort Altshausen nahe Ravensburg als eines von elf Kindern der Familie geboren. Für die klassische Schulbildung bleibt nicht viel Zeit. Bedingt durch eine Erkrankung und eine Operation entfällt sein viertes Schuljahr, im Folgejahr gibt es wegen des Beginns des ersten Weltkriegs keine Lehrer mehr. „Wo die Schule versagt, geht das ganze Leben einen Nebenweg“, schreibt er später in seinen autobiografischen Notizen.

Im Alter von elf Jahren wird Mesmer als sogenannter Verdingbub zur Arbeit bei Großbauern und auf Gutshöfe geschickt, darunter auch auf einen Hof des Klosters Untermarchtal. „Durch die Schwestern angestiftet ein Ordensmann zu werden, mit den Worten: ‚Sie gebten doch so ein schönes Päterchen‘ entschloß ich mich hiezu“, schreibt er später. Er entscheidet sich für das Kloster Beuron, „das weltbekannte Benediktinertum“. Nach sechs Jahren verlässt er Beuron, wohl im Hader mit der dortigen Obrigkeit: „Lieber alles Versagen u. Ungeschehen sich selber zuschreiben, sonst kann der Orden nicht tadellos vor der Weltgesellschaft bestehen (….) Man muß wissen, daß man vor einem Orden, immer ein schuldiger Mensch ist u. die Heiligkeit eines solchen niemals übertrifft.“

Vom Klosterhof in die Werkstatt

In Altshausen gilt Mesmer nach seiner Rückkehr als Sonderling. Er beginnt 1928 eine Schreinerlehre, ein Jahr später stört er, sei es aus Übermut oder im religiösen Überschwang, eine Konfirmationsfeier in der evangelischen Kirche. „Es war wohl eher ein kleiner und unbedeutender Zwischenfall, aber im konservativen Oberschwaben war das schwerwiegend“, sagt Hartmaier.

Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Die eleganteste Lösung, den seltsamen Kauz loszuwerden, scheint, ihn wegzusperren. Ein Arzt bescheinigt eine „fortschreitende Schizophrenie“, hinter Mesmer schließen sich die Türen der Heilanstalt Bad Schussenried. Für die nächsten 35 Jahre wird er die Tretmühle Psychiatrie nicht mehr verlassen.

„Der Anstaltsgarten war von einer hohen Mauer umgeben, kein Blick ins Volkstreiben wäre möglich gewesen (….) Die Patienten taumelten ganz nach ihrem Vermögen umher, da setzte ich mich meist in die Nischen, auf den Sockel der Mauer und scheuchte meine Langeweile, das Leid durch kleine Beschäftigungen, Kiesel sortierent oder mit Ast Steckchen, Grashalmen etwas zu verfertigen“, beschreibt Mesmer seinen Alltag.

Bei seiner Arbeit in der Buchbinderei der Anstalt stößt Mesmer auf Texte zum Bau von Flugmaschinen - und findet seine Vision: Es musste möglich sein, Mauern und Entfernungen zu überwinden. Eine erste Konstruktionszeichnung datiert aus dem Jahr 1932, fortan beschäftigt er sich mit dem Fliegen, zeichnet und entwirft Apparate. „Erfinderwahn“ schreiben die Ärzte in die Akte. Mesmer bleibt am Boden, doch der Drang nach Freiheit ist stark. 16 Mal bricht er in den 1930er-Jahren aus und wird jedes Mal nach kurzer Zeit wieder zurück gebracht.

Die Nazizeit überlebt Mesmer. Da er als guter Arbeiter gilt, wird er, anders als viele Psychiatriepatienten in Bad Schussenried, nicht nach Grafeneck abtransportiert und ermordet. 1949 wird Mesmer in die Anstalt Weissenau verlegt, doch von Entlassung ist weiterhin keine Rede. „Er gehörte wahrscheinlich nie in die Psychiatrie, doch die Mutter hat alles ausgebremst. Erst nach ihrem Tod kam er in Freiheit“, sagt Stefan Hartmaier.

1964, nach 35 Jahren hinter Mauern, erhält Gustav Mesmer einen Platz in einem Altenheim in Buttenhausen. Dort bekommt er eine kleine Werkstatt für die Korbflechterei, vor allem aber kann er dort ohne jede Einschränkung seine Erfindungen in die Praxis umsetzen. In kurzer Zeit entsteht eine Fülle von Flugapparaten, zumeist auf der Basis eines alten Damenfahrrads, manche auch als Schwingen, die auf den Schultern getragen werden.

„Ein echter Recyclingkünstler“

Mesmer verwendet ausschließlich schon gebrauchte Materialien für seine Konstruktionen. So erwachen weggeworfene Düngemittelsäcke aus Plastik als Tragflächen zu neuem Leben, rostige alte Nägel werden gerade geklopft und wieder eingesetzt, Sprungfedern aus Bettrosten machen Schwingen beweglich. „Er war ein echter Recyclingkünstler“, beschreibt Hartmaier.

Der Anblick des älteren Herrn, der mit verschmitztem Gesichtsausdruck auf abenteuerlichen geflügelten Fahrrädern durch das Dorf saust, gehört bald zum Alltag in Buttenhausen. „Manchmal ist er auch die Waldwege zur Lauter hinuntergedonnert und hat dort die Ausflügler erschreckt“, erzählt Hartmaier. Einige Male hat er mit einem selbstgemalten Plakat sogar für sich geworben: „Hier der neue Zirkus Flugfahrad Vorführung u. Luftakropatig!“.

Ob der „Ikarus vom Lautertal“, wie er bald genannt wird, je geflogen ist, bleibt ungeklärt. „Er hat einige Male erzählt, er sei ein paar Zentimeter oder auch mal 50 Meter weit geflogen. Bloß sei gerade in dem Moment niemand dabei gewesen“, erzählt Hartmaier. Letztlich sei es ihm nie in erster Linie um das Fliegen gegangen, vermutet er. „Es ging ihm um die Forschung und die Arbeit daran. Wenn er Fluggeräte oder Details dazu entworfen und gezeichnet hat, dann ist er auch geflogen. Es ging mehr um die Idee, die Vision, als um das Machbare. Damit war er glücklich und in seiner Welt unabhängig“, beschreibt Hartmaier.

Etwa 1000 Zeichnungen und Gemälde verwahrt die Gustav-Mesmer-Stiftung, darunter Porträts und Architekturskizzen, hauptsächlich jedoch Studien zu Flugrädern, Konstruktionszeichnungen für Tragflächen, Schwingen, Flugdrachen, Gleiter und Luftschiffe. Grobe Entwürfe sind ebenso darunter wie ausgefeilte plastische Detailbetrachtungen zu einzelnen funktionalen Elementen. „Anhand der Zeichnungen können wir Apparate und andere Objekte rekonstruieren, die nur noch in Teilen vorliegen“, sagt Hartmaier.

Neben den Flugapparaten hat Gustav Mesmer nämlich noch Anderes ersonnen. Musikinstrumente wie eine Doppelhalsgeige, hölzerne Rollschuhe mit ausgeklügelten Bremsen oder etwa Sprungschuhe - Federn aus Metall, die zwischen zwei mit Scharnieren verbundenen Holzplatten befestigt unter die Schuhe geschnallt werden und die Fortbewegung, nicht zuletzt aber auch das Aufsetzen nach einem Flug, erleichtern sollen. „Es ist schon fast lustig, dass eine amerikanische Firma so etwas ähnliches Jahrzehnte später auf den Markt gebracht hat“, sagt Hartmaier.

Späte Anerkennung

Zu den bemerkenswertesten Objekten gehören die Sprechmaschinen. Mesmer hat auf beweglichen, in konzentrischen Kreisen angeordneten Holzklötzchen kleine Zungen aus Metall geschraubt. Unterschiedlich groß und zugeschnitten, durch weitere angeklebte Materialien ergänzt und verfeinert, ergeben sie, in Schwingungen versetzt, unterschiedliche Laute - ein klar tönendes A wie ein schnarrendes R. Nacheinander angeschlagen können so „Worte“ erzeugt und Sätze gebildet werden.

Mesmers schriftlicher Nachlass harrt noch der Aufarbeitung. „Es gibt viele Texte zu den Zeichnungen, eine Menge Gedichte und etliches, das sich mit Gott und dem Lauf und der Funktion der Welt auseinandersetzt“, erzählt Hartmaier. Er vermutet im literarischen Werk Mesmers „eine eigenständige Facette des Künstlers mit hoher Bedeutung“.

In den 1980er-Jahren erfährt Gustav Mesmer erste Anerkennung in der Kunstwelt. Stefan Hartmaier und Martin Mangold organisieren Ausstellungen seiner Werke in Mannheim, Wien, Lausanne und Ulm. 1992, zwei Jahre vor seinem Tod, wird eines seiner Flugfahrräder bei der Weltausstellung in Sevilla gezeigt. In den vergangenen zwei Jahren waren einige Werke bei Ausstellungen in Friedrichshafen und im American Folk Art Museum in New York, in Heidelberg und in Belgien zu sehen. Weitere Werkschauen sind geplant. „Die Ausstellungsverantwortlichen in Lausanne und in New York haben uns sehr deutlich klar gemacht, dass wir mit Gustav Mesmers Arbeiten einen künstlerischen Schatz haben“, erzählt Stefan Hartmaier.

Auch Frank Lang, Kurator der Landesausstellung „Die Schwaben zwischen Mythos und Marke“, sieht in dem Flugfahrrad, das die Gustav-Mesmer-Stiftung als Leihgabe zur Verfügung gestellt hatte und in Stuttgart gezeigt wurde, weit mehr als nur „das Grüblerische und das Tüftlerische des Schwaben“. „Es ist Art Brut, große Laienkunst, die international rezipiert wird“, sagt Lang.

Ein Fernziel der Gustav-Mesmer-Stiftung ist die Einrichtung einer Dauerausstellung der Werke an ihrem Entstehungsort Buttenhausen. So könnten die Präsentation und wissenschaftliche Untersuchung des Werkes geleistet, vor allem aber der Mensch Gustav Mesmer angemessen gewürdigt werden, sagt Hartmaier. „Ein Mann mit einem bitteren Lebenslauf, der nie verbittert war. Er hat seine eigene Welt geschaffen - der Traum vom Fliegen, die Vision, das war zum Überleben notwendig. So hat er seine Autarkie und seine Würde bewahrt“.