Kulturkleinod mit ungewisser Zukunft: das Nürtinger Hölderlinhaus. Foto: oh - oh

Wie viel Hölderlin steckt noch im Nürtinger Dichterhaus? Klarheit könnte eine wissenschaftliche Analyse bringen. Die verweigert die Stadt bislang.

NürtingenWie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen“, so trieb das Schifflein Nürtinger Hölderlinhaus in der Ära des Oberbürgermeisters Otmar Heirich (SPD) „Jahr lang ins Ungewisse hinab“. Das Schicksal des ehemaligen Dichterdomizils, über dessen Zukunft seit Jahren in der Neckarstadt gestritten wird, könnte kaum trefflicher beschrieben werden als mit den berühmten Hölderlin-Worten aus „Hyperions Schicksalslied“. Erst sollte das Haus abgerissen werden, was dank der engagierten Bürgerschaft in letzter Sekunde verhindert werden konnte. Seitdem wollte es die Stadt aufstocken lassen. Aus der Aufstockung wurde eine Totalentkernung, ein Abriss im Inneren – im Gemeinderat mit großer Mehrheit geradezu begeistert aufgenommen: „genial“, „hervorragend“, „überzeugend“, „schlüssig“, „wie Weihnachten mitten im Mai“ wurde vor einem Jahr jubiliert.

Nun ist ein neuer Mai samt „Weihnachten“ gekommen, und wie Knecht Ruprecht haben die Stadt Nürtingen und das mit der Ausführung beauftragte Stuttgarter Büro Aldinger das Abriss-Geschenk zweiter Klasse wieder aus dem Gabensack geholt. Und siehe da, es ward komplett wieder aufgeschnürt worden. Die jüngste Entkernungsvariante: Zwei Fassaden sollen wie gehabt stehenbleiben, zwei rückgebaut werden, Teile der Beletage Schonung erfahren. Wenn im kommenden Frühjahr die internationale Gedenkkarawane beim 250. Geburtstag des Dichters durch das Land zieht, dürfte sie in Tübingen und Lauffen vor herausgeputzten Gedenkstätten Halt machen – in Nürtingen aber statt vor vier nun vor zwei „sprachlos und kalt“ dastehenden Mauern.

Auch diese erhebliche Veränderung eines angeblich doch ausgereiften, konsistenten Entwurfs wurde am vergangenen Dienstagabend mit großer Mehrheit im Nürtinger Gemeinderat gegen die Stimmen der Fraktion NT 14 durchgewunken. Diese setzt sich wie der Nürtinger Hölderlinverein für eine Anerkennung des Hauses als Kulturdenkmal und eine Sanierung im Bestand ein.

Zufall oder Dramaturgie: Ebenfalls am Dienstag wurde die Entscheidung des baden-württembergischen Wirtschaftsministeriums über die Fachaufsichtsbeschwerde des Nürtinger Hölderlinverein gegen das Landesamt für Denkmalpflege (LAD) publik. Wie zu erwarten, wurde die Beschwerde zurückgewiesen. Die Begründung des Ministeriums als oberste Denkmalschutzbehörde deckt sich, ebenfalls wenig überraschend, bis in die Formulierungen hinein im Wesentlichen mit den bislang vom LAD selbst abgegebenen Verlautbarungen. Durch die wiederholten Umbauten des einstigen Barockhauses seien dessen „Originalität und Integrität“, mithin sein „dokumentarischer Wert“ nachhaltig geschwächt“.

Wird durch die auch vom LAD herangezogene Charta von Venedig, also das international anerkannte Grundsatzpapier über die Konservierung und Restaurierung von Denkmälern, tatsächlich nur eine solche Engführung auf eine einzige Zeitschicht und deren Substanz als entscheidende Träger des Denkmalwerts gedeckt? Laut Michael Petzet, dem langjährigen Generalkonservator des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege und ehemaligen Präsidenten des Deutschen Nationalkomitees des Internationalen Rates für Denkmalpflege, können gemäß dieser Charta von 1964 „zur Authentizität des Denkmals selbstverständlich auch spätere Veränderungen gehören – der ‚originale‘ Zustand als Summe verschiedener Zustände, die sich wie Jahresringe eines Baumes überlagern.“

In der LAD-Akte zum Hölderlinhaus ist von einer bauhistorischen Untersuchung von 2011 die Rede. Gemeint ist wohl das im Auftrag der Stadt Nürtingen erstellte Gromer-Gutachten aus dem Jahr 2009. Der inzwischen verstorbene Gutachter war zu einem überraschenden Ergebnis gekommen und hatte klare Konsequenzen gefordert: „Das Gebäude ist deutlich wertvoller, als man bisher wusste“, und es sollte deshalb „wie ein Bau- und Kulturdenkmal behandelt werden“. Konkret hat Gromer, der im Rahmen seines Auftrags lediglich eine gründliche Inaugenscheinnahme – inklusive Archivalienabgleich – des in seinen ältesten Teilen womöglich auf Überresten einer spätmittelalterlichen Festungsanlage gründenden Gebäudes hatte vornehmen können, eine bauarchäologische Untersuchung, also eine wissenschaftlichen Kriterien genügende Detailanalyse, empfohlen. Eine solche eingehendere Befundung der Bauschichten mithilfe moderner Wissenschaftsmethoden ist ein übliches Prozedere, bestätigen etwa Barbara Scholkmann, emeritierte Professorin für Archäologie des Mittelalters an der Universität Tübingen, oder der Fachwerkspezialist und Tübinger Universitäts-Dozent für historische Bauforschung Tilman Marstaller.

Das LAD war nach eigener Aussage in den vergangenen Jahren wiederholt mit dem Nürtinger Hölderlinhaus befasst, dabei aber, wie es nun gegenüber dem nach Akteneinsicht stutzig gewordenen Hölderlinverein einräumen musste, all die Jahre überhaupt nicht im Besitz des originalen Gutachtens, sondern hatte lediglich einen Aufsatz des Gutachters aus der Zeitschrift „Schwäbische Heimat“ von 2011 zur Hand. Zu solchen wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten schweigt sich die prüfende oberste Denkmalbehörde ebenso aus wie zu den von Gromer empfohlenen bauarchäologisch-restauratorischen Detailbefundungen.

Stattdessen fand laut Wirtschaftsministerium erneut eine „Begehung“ des Hauses statt. Danach müsse das Gebäude „in seinem heutigen Zustand als ein in mehreren Umgestaltungsphasen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstandenes und nach dem Zweiten Weltkrieg gestalterisch vereinfachtes Schulgebäude angesprochen werden.“

Das ist höchstens die halbe Wahrheit. Denn man muss – und die Stadt Nürtingen tut es explizit – auch heute noch von einem „stadtbildprägenden“ Gebäude, das Nürtingen ein „Alleinstellungsmerkmal“ gegenüber den anderen Hölderlinstädten sichere, sprechen. Von einem Haus, dessen Integrität bereits hinsichtlich Maßstäblichkeit und Materialität durch die Stadtbildsatzung geschützt ist (die Hölderlin-Gesellschaft regte schon nach Erscheinen des Gromer-Gutachtens an zu überlegen, „wie die erhaltenswerte Bausubstanz einschließlich der originalen Kubatur des Hauses (…) zu einem Ensemble gestaltet werden kann“). Man muss von einer baukulturellen Nürtinger „Inkunabel“ sprechen, wie es der Frankfurter, aus Nürtingen stammende Architekturprofessor Wolfgang Lorch formuliert, der „die Zielvorgabe, in jedem Fall aufzustocken, aus mehreren Gründen für fragwürdig“ hält.

Im Nürtinger Hölderlinhaus, auf einem ehemaligen Schickhardt-Bau errichtet, bündeln sich wie unter einem Brennglas Stadt- und Landes-, Bildungs- und Sozialgeschichte vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Der ehemalige Schweizerhof, der nur zwischenzeitlich als privater Wohnort der Dichterfamilie Hölderlin-Gock fungierte, war Spinn- und Industrieschule, Suppenanstalt und Präparandenanstalt, Kleinkinderschule, Knabenschule und schließlich Gymnasium. Das Nürtinger Hölderlinhaus kann in seinem heutigen Zustand als geradezu prädestiniert zum multiplen Erinnerungsort angesprochen werden. Wäre es nicht reizvoller, ja mehr noch: mit Blick auf das wechselvolle Schicksal des großen Sohnes der Stadt wie des Hauses glaubwürdiger, den ganzen Reichtums seiner Authentizität zu erhalten – mit allen Facetten, Brüchen und Narben, von denen das Haus sichtlich gezeichnet ist?

Denn es hat die Stürme der Zeit – und auch den Furor wenig zimperlicher Ummodler – überlebt. Es ist nicht wie der Tübinger Hölderlinturm abgebrannt. Es wurde nicht wie das Frankfurter Goethehaus von Fliegerbomben plattgemacht. Es ist „immer noch das originale Haus“, wie in der Aufgabenstellung hervorgehoben wird. Und deshalb greift auch der vom Marbacher Hölderlinhaus-Berater Thomas Schmidt wiederholt herangezogene Vergleich des Nürtinger Dichterdomizils mit den genannten Dichterhäusern zu kurz. Es handelt sich in Nürtingen nicht um einen „gemachten“, sondern um einen gewordenen, gewachsenen vielschichtigen Erinnerungsort, der wiederholt umgebaut, aber nicht zerstört wurde und neu aufgebaut werden musste. Und er hat schon werkbiographisch eine ganz andere Bedeutung als etwa das von Schmidt ebenfalls vergleichend angeführte Schiller-Haus in Marbach. Im Nürtinger Hölderlinhaus, in das Friedrich Hölderlin auch später immer wieder zurückkehrte, entstand nachweislich Weltliteratur.

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat in einer „Stellungnahme zum Hölderlinhaus Nürtingen“ bereits 2012 auf diesen Aspekt im Kontext der Frage nach dem geeigneten authentischen Erinnerungsort hingewiesen: „Der Schweizerhof an der Neckarsteige, in dem trotz etlicher baulicher Eingriffe der Lebens- und Lernraum des jungen Hölderlin, sein ‚Olymp‘, bis heute im Wesentlichen erhalten geblieben ist (Gutachten Dr. J. Gromer, 2009) und in dem Hölderlin u.a. seinen Roman ‚Hyperion‘ überarbeitet hat, würde sich bestens als ein solcher Ort eignen.“ Deshalb wird in der Stellungnahme – der Verfasser heißt Thomas Schmidt – „ausdrücklich“ der „Erhalt, die Sanierung und die deutlich sichtbare Markierung des Schweizerhofes, etwa durch eine die öffentliche Nutzung des Hauses ergänzende kleine, prägnante Ausstellung“, befürwortet. Man halte sich vor Augen: Bis vor kurzem noch war, mit freundlicher Marbacher Unterstützung, das Hölderlinhaus zur Totalentkernung freigegeben.
In der Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums wird im Kontext des Dach-„Olymps“ unter Verweis auf Gromer von einer „nicht gesicherten Annahme“ gesprochen: „So könnte Hölderlin z.B. über den Räumen der Mutter in einem 35 Quadratmeter großen Zimmer zur Neckarsteige hin gewohnt haben.“ Nun, natürlich könnten er und seine beiden Geschwister auch im Keller und nicht in den drei ausgebauten Dachräumen gewohnt haben. Gleichviel, wer nun droben in welcher Stube gewohnt haben mag – es stellt sich auch hier vielmehr die Frage: Warum will die Stadt Nürtingen nicht endlich Licht in ihr „Leuchtturmprojekt“ bringen, nicht die ganze bauhistorische Wahrheit wissen? Warum sorgt man nicht mit der von Gromer und auch jetzt von weiteren Bauhistorikern geforderten restauratorisch-archäologischen Analyse dafür, dass man mithilfe valider Daten im Indikativ sprechen kann? Schließlich hat der Gutachter auch im Obergeschoss des Hauses Substanz aus der Erbauungszeit identifiziert: eine Giebelwand – und in der Decke über der Beletage. Warum riskiert man noch immer, dass man vielleicht schon bald nur noch im Konjunktiv II wird sprechen können? Etwa über die versäumte Prüfung eines leichtfertig verschleuderten einmaligen Erbes, das in der hellsichtigen Sanierungsvariante des Stuttgarter Architekten Manfred Michel genau deshalb, zur Aufbewahrung für künftige Generationen, die vielleicht wieder mehr mit dem Kulturkleinod Hölderlinhaus anfangen können, in eine kostbare Verpackung aus Alu-Zinn-legiertem Kupfer gepackt worden ist: eine attraktive und intelligente Verbindung zur Moderne, die man doch immer haben wollte, dazu ein echter Hingucker.

Und vielleicht bringt eine dendrochronologische Untersuchung des Dachstuhls neue Erkenntnisse. Für den Bauforscher und Archäologen Marstaller legen die von Gromer vorgelegten Dokumente sowie Fotos nahe, dass bei den Dachumbauten auf die historische Kernkonstruktion zurückgegriffen worden sein könnte, wie das damals durchaus üblich war. Doch Experten wie Marstaller bekamen unter dem Nürtinger OB Heirich keine Chance, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Zu den Nürtinger Hölderlinhaus-Mythen gehört auch die von der Verwaltungsspitze lancierte These von einer sozusagen maximalen Fördermittelquote für den nicht denkmalgerechten Umbau. Es habe noch nie einen so hohen Zuschuss für die Sanierung gegeben, berauschte man sich noch kürzlich im Nürtinger Gemeinderat angesichts der 2,7 Millionen Euro, die als Zuschuss vom Land bewilligt sind; die Umbaukosten werden derzeit auf 5,4 Millionen Euro beziffert. Der Förderanteil beträgt also aktuell gerade einmal 50 Prozent.

In Lauffen kann man dank des Denkmal-Status des dortigen Hölderlinhauses auf weitere Töpfe zugreifen, unter anderem gibt es Geld von der Deutschen Stiftung Denkmalpflege. So beträgt dort der städtische Anteil der auf rund fünf Millionen Euro veranschlagten Projektkosten lediglich circa 1,1 Millionen Euro. Eine bestands- und ressourcenschonende Sanierung rechnet sich also durchaus – ökologisch wie ökonomisch. Und wer wollte bestreiten, dass man eingespartes Geld, womöglich in Millionenhöhe, in Nürtingen nicht gut gebrauchen kann – zum Beispiel bei den dringend sanierungsbedürftigen Schulen?