Musikalisch mittelmäßig, aber die Show ist großartig: Kiss-Frontmann Paul Stanley (rechts) und Bassist Gene Simmons - Markenzeichen: herausgestreckte Zunge. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Der Band gelingt es, ihre musikalische Mittelmäßigkeit mit perfekter Selbstinszenierung zu übertünchen. Zum Schluss des explosiven 100-Minuten-Konzerts wird dann allerschwerstes Geschütz aufgefahren. Das Konzert ist ein Magnum Opus aus Licht, Sound, pyrotechnischen Effekten, Donnerschlägen und Nebel.

Von Ingo Weiß

„Kurz vor Beginn, wenn du hörst, wie das Publikum durchdreht, das ist ein unglaublich großes Gefühl. Dann schießt das Testosteron ein und du wirst völlig wild!“ - Gene Simmons.

Stuttgart -Alle Achtung, als Intro „Rock’n’Roll“ von Led Zeppelin zu wählen, hat Chuzpe. Aber die US-amerikanischen Glam-Rocker Kiss waren schon immer leicht größenwahnsinnig. Ein Donnerschlag, der schwarze Vorhang mit riesigem Kiss-Schriftzug fällt in den Bühnengraben und schon da kennt die Ekstase keine Grenzen. Von Bühneneis umnebelt und zum Opener „Deuce“ schweben die Protagonisten der New Yorker Band auf einem Podest stehend vom Hallendach auf die Bühne der Stuttgarter Schleyer-Halle hinab.

Dort thronen sie dann förmlich. Links außen: Bassist Gene Simmons (67), einst als Chaim Witz in Haifa, Israel geboren. Sein Markenzeichen, die ausgestreckt-lange Zunge, gehört zu Kiss wie das Make-up. Er ist der „God of Thunder“, manche nennen ihn aufgrund seiner unternehmerischen Finesse mittlerweile auch den „Trump des Rock“. Rechts außen: Rhythmusgitarrist Paul Stanley (65), ebenfalls jüdischer Herkunft. Seine Mutter wurde in Berlin geboren. Um das rechte Auge trägt er obligatorisch einen schwarz geschminkten Stern. Dazu Leadgitarrist Tommy Thayer (56) sowie Schlagzeuger Eric Singer (59).

Die beiden Letztgenannten sind keine Ur-Küsse. Aber das ist egal. Unter der wasserfesten, schwarz-weißen Kumadori-Kabuki-Theaterschminke sieht man die Gesichter ohnehin nicht. Die realen Menschen treten seit jeher hinter den Masken in den Hintergrund. So stehen im Grunde nicht Simmons, Stanley, Thayer und Singer auf der überwältigenden Bühne, sondern The Demon, Starchild, Spaceman und Catman. Es ist eine bizarr anmutende Mischung aus Comic-Helden auf schwindelerregenden Plateauschuhen und in teils martialischen Glitzerkostümen. 44 Jahre lang, seit 1973, gibt es Kiss schon, aber irgendwie wirken die zu Kunstfiguren mutierten Musiker alterslos. Nur wer ganz genau hinschaut, erkennt, dass auch bei den Recken der Jugend das Alter Furchen gezogen hat.

Zeitlos auch ihre Klassiker. „Shout it out loud“ oder „Shock me“ haben zwar längst ihren kratzbürstigen Vibe der 70er-Jahre verloren. Zum freudigen Mitklatschen reichen solche Mitsing-Hymnen aber allemal. Songs wie „Lick it up“ mögen vielleicht nicht virtuos sein, aber sie tragen eine nicht wegzuleugnende Stadionrock-Attitude in sich. „Crazy Crazy Nights“ bietet grandiose Ohrwurmqualitäten, „Flaming Youth“ ist ein veritabler Partyhit, „Say Yeah“ ist klassischer Glamrock und „Black Diamond“ eine starke Hymne. Mit „I love it loud“ und „War Machine“ gibt es sogar Stücke aus der härteren 80er-Jahre-Kiss-Phase auf die Ohren. Nur vom bislang letzten Album „Monster“ (2012) schafft es kein Titel auf die Setliste.

Trotzdem ist die Arena rappelvoll. Obwohl die Band vergangenes Jahr nicht nur das Stuttgart-Gastspiel kurzfristig und ohne einen Grund zu nennen abgesagt und für viel Unmut bei der Kiss-Army gesorgt hatte. Vorbei und vergessen bei den 12 500 Fans. Ein Jahr später verwandelt das Quartett die ausverkaufte Halle in ein Tollhaus. Kiss bleibt eine Band, der es immer wieder gelingt, ihre musikalische Mittelmäßigkeit mit genialem Marketing und perfekter Selbstinszenierung zu übertünchen.

Ihre „Greatest Show on Earth“, wie sie vollmundig tönen, ist auch weiterhin Mummenschanz. Aber fantastischer Mummenschanz, der einfach Laune macht. Mit klanglichen wie optischen Mitteln werden die Fans wunderbar niedergewalzt. Das Konzert ist ein riesiges Magnum Opus aus überbordendem Licht, mächtigem Sound, nicht enden wollenden pyrotechnischen Effekten, Donnerschlägen und Nebel. Es kracht und dampft und brodelt unentwegt, Bandgründer Simmons spuckt Kunstblut und Feuer wie einst Schockrocker Alice Cooper und fliegt im Stile von Pink an Stahlseilen hängend hinauf unter das Hallendach, wo er „God of Thunder“ speit. Später fliegt Paul Stanley an einer Seilbahn im Stile von Udo Lindenberg auf eine hydraulische Plattform in der Hallenmitte, wo er „Psycho Circus“ als ewig Pubertierender Rockposer, der noch immer brillante Dance-Moves beherrscht, zelebriert. Derweil verschießt Thayer, der sich immer weiter in den Vordergrund spielt, Gitarren-Raketen. Die Kiss-Show, übertragen auf überdimensionale LED-Wände, ist ein zirzensisches Bombast-Spektakel, eine Rock’n’Roll-Miniaturausgabe von Disneyland inmitten eines Star Wars-Universums. Der dunkle, höllenlodernde Kiss-Planet ist in Wahrheit ein hellleuchtender, kunterbunter Abenteuerspielplatz mit Laserblitzen, die sogar Luke Skywalkers Lichtschwert-Kämpfen zur Ehre gereichen würden. Das ganze Spektakel hat ein wenig von Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, lenkt es doch immer wieder von den Songs ab.

Ohne dieses Rocky-Horror-Brimborium drumherum würde die Musik von Kiss objektiv ziemlich unspektakulär klingen. Eigentlich ist es klassischer, bluesorientierter Hardrock. Ein Musikstil, den die Band nur in homöopathischen Dosen und hin zu melodischem Pop-Rock veränderte und der heute harmlos, nahezu handzahm daherkommt. Da kann Paul Stanley auf seine schwarz-rot-goldene Gitarre noch so feste eindreschen. Aber wie gesagt: die musikalische Solidität ist grandios festival- und stadiontauglich.

Wer die ganze Maskerade einer Sinnfrage unterzieht, wer den auf der Bühne bewusst inszenierten Widerspruch zwischen androgynem Auftreten insbesondere von Stanley, und vermeintlich hartem, männlichem Rock kritisiert, der darf nicht zu Kiss gehen. Denn live zelebrieren die ungemein spielfreudigen Hardrocker einen herrlichen, augenwischenden Abgesang auf alte Zeiten. 1975 waren die Bewegungsabläufe der Herren Simmons und Stanley noch dynamisch, heute stapft das Monster Simmons nur noch selten über die Bühne wie einst Godzilla durch Tokio. Und Stanleys Gesang ist immer seltener zu ertragen. Die Kiss-Fans wissen, dass er viele Töne nicht mehr trifft und dass das donnerhallige Bass-Intermezzo von Simmons gelinde gesagt für die Tonne ist. Trotzdem ist jede Sekunde ein Genuss, weil hier bombastisches, feuriges Rock-Popkorn-Kino geboten wird, weil hier Träume gelebt werden. Es ist diese Verlässlichkeit, die die enorme Anziehungskraft dieser amerikanischen Illusionsverkäufer ausmacht. Die Frage, die man sich bei Kiss-Konzerten somit stellen muss, ist nicht, was kommt - sondern lediglich, wann es kommt.

Der Glanz der frühen Kiss-Jahre ist längst nicht verflogen, sondern nach einer Durststrecke wieder zurückgekehrt. Einerseits, weil sich viele Fans zurück in ihre Jugend katapultieren lassen. Andererseits, weil viele die Band - die bis dato letzten beiden Auftritte der Band in Stuttgart datieren aus den Jahren 2008 und 1999 - zum allerersten Male erleben. Ihre Overkill-Show, die über die Jahre nur minimal verändert wurde, ist zu einem Synonym für wahre Rock-Konzerte geworden, ähnlich wie bei AC/DC.

Zum Schluss des explosiven 100-Minuten-Konzerts wird dann allerschwerstes Geschütz aufgefahren. Musikalisch mit den rasanten Zugaben „I was made for lovin’ you“ sowie dem Schlussakkord „Detroit Rock City“. Zuvor, bei „Rock and Roll all Night“, ertrinkt die Arena in tonnenweise weißem Konfetti und Lametta. Es züngelt und explodiert in einem fort wie bei einem gigantischen Silvester-Feuerwerk. Und Stanley zertrümmert augenzwinkernd noch seine Gitarre wie einst Pete Townshend von The Who. Das ist, ganz im Zeppelin’schen Sinne, wahrer Rock’n’Roll.

„You want the best, you got the best” ist das seit vier Jahrzenten ausgesprochene Versprechen - und an diesem Abend wird es mehr denn je gehalten. Kiss sind eine zeitlose Marke geworden. Und sie bescheren den Fans weiterhin ungemeine Glücksgefühle. So soll es sein. So ist es. So kann es bleiben.