Die Passagiere bauen den Luxuszug zusammen: ein stark abstrahierter ­Orientexpress beim Gastspiel des NRW Juniorballetts. Foto: Bettina Stöß Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Ludwigsburg - Nobel glitzert die Bühne wie das Innere des berühmten Luxuszuges, fast ein wenig versnobt bauen sich die elf Mörder beim mörderischen Finale zum Gruppenbild mit Opfer auf: Agatha Christies „Mord im Orientexpress“ dürfte eine der bisher ausgefallensten Vorlagen für ein Handlungsballett sein. Die Uraufführung fand im Forum Ludwigsburg statt, das NRW Juniorballett tanzte ein Werk, für das gleich vier Choreografen verantwortlich zeichneten.

Die zwölf Tänzer starke Truppe wurde als eine von inzwischen fünf deutschen Juniorenkompanien 2014 gegründet und gehört zum Dortmunder Ballett. Die Berufsanfänger sind teils mit der Hauptkompanie zugange, haben aber auch ihr eigenes Repertoire. Nun debütierten sie „in der Königsdisziplin des Balletts“, so ihr Dramaturg Christian Baier, nämlich dem Handlungsballett. Dafür holte sich das Juniorensemble mit dem Stuttgarter Demis Volpi den jüngsten der großen Choreografen-Erzähler, der nicht nur Regie führte, sondern auch überleitende Szenen zwischen den sich fließend ergänzenden Teilen schuf.

So arg viel Handlung war zunächst nicht zu sehen. Sie schälte sich nach und nach aus diversen Impressionen heraus. Das luxuriöse Eisenbahnwunder des 19. Jahrhunderts zeigt Ausstatterin Tatyana van Walsum nicht etwa in realen Waggons, sondern symbolisiert den Zug in einem großen, ringsum verspiegelten Würfel, der sich fast wie eine Kletterburg aus vielen kleineren, ebenfalls würfelförmig-spiegelnden „Compartements“ zusammensetzen lässt. Die Passagiere treten zunächst in anonymem Schwarz und mit Straßenschuhen an, später werden sie in Weiß zum Schnee, in dem der Zug steckenbleibt. Crèmefarbene Edelcouture weist dann wieder auf den Luxus hin, flammendes Knallrot steht für den Mord. Dass in dem 80-minütigen Ballett weder die frühe Manifestation des europäischen Gedankens noch der späte Ruf des Orientexpresses als „Gastarbeiterzug“ eine Rolle spielen, sei verziehen, denn rings um den glitzernden, die Figuren stets vervielfachenden Würfel entfaltet sich eine rätselhaft-spannende Geschichte.

Zu einer exquisiten Musikauswahl von Philip Glass bis György Ligeti, von verjazztem Anton Webern bis zu armenischem Gesang kristallisiert sich das Geschehen um verschiedene Figuren: das Opfer, den Detektiv, die Zeugen, den Mörder. Erzählt wird eigentlich die Vorgeschichte des berühmten Agatha-Christie-Romans, in dem Meisterdetektiv Hercule Poirot am Schluss zwölf verschworene Mörder für einen einzigen Toten findet. Der hatte einst ein Kind getötet, und dieses Verbrechen sehen wir hier zuerst, bevor am Schluss der Täter kollektiv bestraft, sprich: abgemurkst wird - in einer ballettösen Gewaltorgie vom Handkantenschlag über Beinumklammerung bis zum Genickbruch durch Herumschleudern. Makaber, aber höchst originell findet Demis Volpi hier zu seiner alten Stärke zurück, dem Erfinden neuer, gewagter Bewegungen.

In den erstaunlich homogen verwobenen Abschnitten hatte zuvor der Australier Craig Davidson den Mord als langen Pas de deux zwischen Mädchen und Mörder gezeigt, die Berlinerin Xenia Wiest schickt einen vervielfachten Detektiv mit Schulterhalftern, Bowlerhüten und raffinierten Bewegungspointen, der Spanier Juanjo Arqués lässt die Tatzeugen per Kontaktimpuls aussagen; sein weicherer Stil unterscheidet sich am stärksten vom eher klassisch-modernen Idiom der anderen drei.

Demis Volpi, Ex-Hauschoreograf und frisch bepreister Nachwuchs-Opernregisseur, spielte als Gesamtverantwortlicher für den Abend seine Stärken als Dramaturg und Bildererfinder voll aus. Auch wenn er nicht mehr beim Stuttgarter Ballett ist, werden wir sicher noch viel vom ihm sehen.