Foto: Lichtgut/Julian Rettig - Lichtgut/Julian Rettig

Das Festival im Theaterhaus hat gezeigt, wie vielgestaltig der Jazz der Gegenwart ist. Für Begeisterung sorgten unter anderen das deutsch-schwedische Quartett 4 Wheel Drive und die junge Londoner Formation Kokoroko.

StuttgartAuf Komplimente versteht sich der Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier: Das Publikum sei der Hauptsponsor, es steure 60 Prozent des Etats der Jazztage bei, lobt er vor jedem Konzert am Osterwochenende. 6600 Besucher sind insgesamt gekommen, Schretzmeier ist zufrieden: „Wir hatten 85 Prozent Auslastung, die Reaktionen waren vielfach enthusiastisch“, sagt er. „Mich freut besonders, dass die Leute auch zeitgenössischere, radikalere Formen annehmen.“ Und davon gab es – neben sehr traditionellen Spielarten – einige zu bestaunen.

Nach dem Konzert der europäischen Jazz-Supergroup 4 Wheel Drive bildet sich am Karfreitag lange Schlange vor dem Verkaufsstand im Foyer. Doch manchen mag das Album – trotz der Autogramme auf dem Cover – ein wenig enttäuscht haben, denn es wurde vor der Tournee aufgenommen. Die endete nun nach elf Stationen triumphal im Theaterhaus. Siggi Loch, der Chef des ACT-Labels, bestätigt hinterher: „Die Band ist auf der Tour immer besser geworden.“

Die Vorfreude war groß auf den singenden Posaunisten Nils Landgren, Lars Danielsson am melodisch gespielten Kontrabass, den fantasievollen Pianisten Michael Wollny und Strahlemann Wolfgang Haffner am Schlagzeug – und das Konzert übertrifft alle Erwartungen. Die Vier agieren dicht und reagieren mit traumwandlerischem Verständnis, jeder von ihnen hat den Freiraum, den er benötigt, um sich improvisatorisch voll entfalten zu können. Manchem mögen das Programm mit alten Radiohits und die Singstimme Landgrens eine Spur zu gefällig gewesen sein. Doch wie sich der musikalische Vierzylinder mit Allradantrieb im schroffen Gelände des Jazz und angenehmen Pop-Gefilden zurechtfindet, ist sensationell.

Stimmungsbilder der Freiheit

4 Wheel Drive spielen alle Songs – etwa „Lady Madonna“ von den Beatles oder „Just the Way you are“ von Billy Joel – mit Respekt vor den harmonischen Qualitäten, ohne zu dekonstruieren oder gar zu zerstören. Die vertrauten Lieder dienen vielmehr als Startrampe für die Höhenflüge dieser außergewöhnlichen Jazzmusiker, die auch mit Eigenkompositionen wahre Begeisterungsstürme entfacht haben in Stuttgart.

Die meisten Konzerte kreisen auch um die Frage, was Jazz heute eigentlich ist. Eine schöne Antwort darauf gibt am Samstag in Hotpants und Plateau-Pumps die kubanische Pianistin Marialy Pachek nachdem sie sich mit ihrem Landsmann Omar Sosa an gegenüberstehenden Flügeln ein sehr feines, sehr offenes Klavierduell geliefert hat: „Die Magie des Jazz ist diese Freiheit, die keine andere Musik kennt: Sie als Publikum wissen nicht, was passieren wird, wir selbst wissen es nicht – dieser Konzertabend wird sich genau so nie wiederholen.“ Unglaubliche Stimmungsbilder zeichnen die beiden in den Raum, ehe sie mal mit-, mal gegeneinander auf wilde Jagd gehen nach Tönen, Klängen, Motiven, Kabinettstückchen.

Mit butterweichem Ton beginnt der andalusische Saxofonist Antonio Lizana sein Konzert, doch maurisch anmutende Skalen und ein folkloristisch gekleideter Tänzer lassen vorahnen, dass da mehr passieren wird als reiner Jazz: Bald singt, klagt und barmt Lizana mit heller Stimme, er singt reinen Flamenco – dabei kommt seine beschlagene Jazzcombo ganz ohne die dazu sonst üblichen Gitarren aus. Das ist wirklich unerhört und zeigt, wie der Jazz sich immer neue Ausdrucksformen sucht.

Weiter als das Quartett Kuu allerdings wirft bei diesen Jazztagen niemand das Netz aus. Der verhaltenauffällige Christian Lillinger wirbelt unmöglichste rhythmische Kaskaden aus seinem Schlagzeug, dazu verkanten sich die Gitarristen Kalle Kalima und Frank Möbus harmonisch. Es ist ein Wunder, dass die Sängerin Jelena Kuljic überhaupt noch Raum für ihre Stimme findet, geschweige denn weiß, wo die Jungs gerade sind. Allerhöchstes Niveau ist das, eine Art Krautrock 4.0 – aber auch verkopft und schwer zugänglich, weil Kuu sich kaum melodisches Durchatmen gönnen.

Die perfekte Verbindung von Musikalität und Publikumswirksamkeit sucht die Münchner Komponistin, Sängerin und Gitarristin Monika Roscher mit ihrer Bigband. Sie schreibt starke Popthemen und bürstet sie dann gegen den Strich mit großer Experimentierfreude und Sinn fürs Varieté. In „Full Moon Theatre“ zwitschern die Bläser wie Vögel, „Illusion“ gerät zur betörenden Filmmusik, das neue „Queen of Spades“ taucht den Saal in ein Bläser-Klangbad und die Posaunen lassen tieftönen den Boden beben. Nicht alle neuen Stücke, darunter ein Versuch mit „James Bond-Musik“, sind ausgegoren, doch wer Roscher kennt, weiß: Sie wird feilen, bis alles stimmt. Ihren LED-Anzug, der an „Metropolis“ und Oskar Schlemmer erinnert, trägt die Individualistin auch diesmal mit großer Grazie zum hochdramatischen „Starlight Nightcrash“.

Rohdiamanten in der Selbstfindung

Groß war die Spannung vor der London Jazz Night, der die Saxofonistin Nubya Garcia abhandenkam, weil ihr Vater starb. Dafür groovt die Formation Kokoroko (siehe Foto) cool und urban, und hier geben ebenfalls junge Frauen den Ton an: Die Trompeterin Sheila Maurice-Grey und die Posaunistin Richie Seivwright ziehen auch tanzend das Rampenlicht auf sich. Ein Rohdiamant in der Selbstfindung ist diese Gruppe. Natürlich steht sie unter dem Eindruck des US-Saxofonisten Kamasi Washington, der Musikern mit afrikanischen Wurzeln weltweit neues Selbstbewusstsein eingehaucht hat. Zwischen dessen Astraljazz und dem Isaac Hayes-Sound der 70er mäandern Kokoroko auf der Suche nach dem eigenen Sound, der eigenen Idee, dem Schleifmittel für die Bläsersätze. Und bekommen frenetischen Applaus.

Emotional wird es bei den Routiniers am Sonntag in T1 und beim Gedenken an den verstorbenen Drummer Jon Hiseman, der mit Colosseum und in Stuttgart mit dem United Jazz+Rock Ensemble Musikgeschichte geschrieben hat. Einige Überlebende bespielen das nahe Ende einer Ära, Ack van Rooyen (89) mit Balladen wie „Flügelhorn im Herbst“, Wolfgang Dauner (83) ganz in seine Kompositionen versunken allein am Piano. Und schließlich Hisemans letzte Band, das britische Powertrio JCM mit den Colosseum-Musikern Clem Clempson (69) an der Gitarre und Mark Clarke (68) an Bass und Gesang. An den Drums vertritt Ralph Salmins den Verstorbenen würdig, während das Trio eindrücklich den offenen Geist der späten 60er heraufbeschwört. Auch hier gibt es Ovationen.

Vergangenheit und Gegenwart des Jazz lagen räumlich nah beieinander bei diesem Festival – und musikalisch zum Teil weit auseinander. Diese besondere Spannung scheint es zu sein, die das Stuttgarter Publikum anzieht. Was die Zukunft des Jazz angeht, ist das eine gute Nachricht.