Zwei Welten prallen aufeinander: Der coole Jacques (Gerd Ritter, links) und der verwöhnte Julien (Alexander Redwitz) im Käfig. Foto: Tobias Metz Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

Stuttgart - Löwen brüllen, Affen kreischen und Julien tigert unablässig zwischen den massiven Eisenstäben durchs Gehege. Das obere Foyer im Jungen Ensemble Stuttgart (JES) erinnert an einen Tiergarten. Außen herum sitzen die Zuschauer und beobachten die Schauspieler, wie seltene Tiere im Zoo. Die Assoziation ist gewollt, schließlich geht es im Jugendstück der kanadischen Autorin Evelyne de la Chenelière um „Darwins Erbe“. So lautet der Titel des packenden Schauspiels für Menschen ab elf, das jetzt unter der Regie von Frank Hörner Premiere hatte.

Aufhänger ist Juliens Faible für Darwins Evolutionstheorie. Eine einzige Frage beherrscht das Denken des Adoleszenten: „Bin ich angepasst genug, um zu überlegen?“ Sein Freund Jacques findet dieses verhirnte Verhalten seltsam. Ihn plagen ganz andere Sorgen. Zwei Welten prallen aufeinander: die unbekümmerte von Julien, dem verweichlichten Söhnchen mit zwei wohlsituierten Elternteilen und die sorgenvolle von Jacques, der aus armen Verhältnissen stammt.

Beide sind Loser. Der eine, weil er eine Memme ist, der andere, weil er mangels Geld keine Möglichkeiten eines sozialen Aufstiegs hat. Das schweißt zusammen, auch, als ihre Freundschaft mitten in den Ferien auf eine harte Probe gestellt wird. Julien, den Alexander Redwitz als verhaspeltes Weichei spielt, hat sich Geld von Jacques (Gerd Ritter als cooler Halbstarker mit Sonnenbrille) geliehen. „100 Eier“ in Zehn-Cent-Rollen - mühsam Erspartes durch Flaschenpfand, von dem er sich ein Fahrrad kaufen wollte. Mit seinen eigenen 150 „Eiern“ und 250 vom dubiosen Luc wollte Julien durch ein Pyramidengeschäft richtig zu Geld kommen. Hat nur nicht geklappt, weil der Tippgeber Georgie mit der ganzen Kohle durchgebrannt ist.

Pech für Julien. Der Drogendealer und Kleinkriminelle Luc, „ein gefährliches Raubtier“, bei dessen Erwähnung angsteinflößendes Gebrüll aus dem Off kommt, will in drei Stunden die doppelte Summe zurück. Sonst . . . Diese drei intensiven Stunden erleben die Zuschauer im 75-minütigen Zeitraffer als temporeichen Galopp durch die Befindlichkeit Pubertierender. Dabei geht es nicht nur um die einfallsreichen und amüsanten Möglichkeiten zur Wiederbeschaffung des Geldes, sondern um Zusammenhalt, Vertrauen, Verrat, Mädchen, die Familie, Tod, Chancengleichheit und ob Gene oder Geld für das Überleben in unserer Gesellschaft verantwortlich sind.

Schief gesungen, aber gut gelaunt

Eine Antwort gibt es darauf nicht. Ist auch nicht wichtig. Viel wichtiger ist, dass das Stück die Zuschauer fesselt. Am Ende verlässt man das Theater und weiß, dass sich der Besuch gelohnt hat. Der Nachwuchs wurde qualitätvoll unterhalten. Als Erwachsener darf man noch ein bisschen über die Verhältnisse nachdenken: Überlebt wirklich der Stärkere, der mit aggressivem Primatenverhalten selbst Kleingangster in die Flucht schlägt oder derjenige, der bei Gefahr lieber die Augen zumacht und dem dank Aufzucht in guten sozialen Verhältnissen alle Aufstiegsmöglichkeiten offen stehen? Im Stück ist es Jacques, der sich mit Drohgebärden durchsetzt und nicht Julien, der sich das Geld hätte leicht von seinen vermögenden Eltern leihen können.

Redwitz und Ritter zeigen ein sehr körperbetontes, akrobatisches Spiel mit Witz und Musik: schief gesungen, aber gutgelaunt. Gloria Gaynors „I will survive“ darf nicht fehlen und zum tröstlichen „Raindrops keep falling on my head“ spielen sie doppelhändig Mini-Gitarre.

Regisseur Hörner lässt die beiden wunderbar mit dem Tiermotiv spielen, wobei sie wie Wildtiere im Zoo in ständiger Bewegung bleiben. Leise und laute, aggressive und behutsame Momente wechseln sich wohltuend ab. Man spürt die Energie und die Willenskraft, die Jacques sogar aus dem Gittergefängnis von Stefanie Stuhldreier ausbrechen lässt, als er sich brüllend wie ein Stier vor seinen Freund gegen den imaginären Luc stellt. Rührend dann wieder, wie die beiden in tiefem Übereinstimmen „Boys don’t cry“ trällern, während die Raviolis aus der Büchse auf dem Elektrokocher vor sich hinblubbern. Ein eindrucksvolles Sommer-Erlebnis, das ein bisschen an Wolfgang Herrndorfs preisgekrönten Jugendroman „Tschick“ erinnert.

Weitere Aufführungen: 27./28. April und 30. Juni je 11 Uhr, 1. Juli 18 Uhr.

Karten unter Tel. 0711 218 480 18.