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Bettina Penzel spielt seit 1995 erste Violine im Staatsorchester Stuttgart. Diskriminierung hat die 48-Jährige selbst nicht erlebt. Aber sie weiß über die Bedeutung des Vorhangs.

StuttgartNein, Diskriminierung habe sie nie erfahren, sagt Bettina Penzel. Schon als kleines Kind wollte sie Violine spielen. „Wenn Nina groß ist, spielt sie Geige“, habe sie als Zweijährige gesagt, erinnert sich Penzel. Heute ist die 48 Jahre alt und spielt erste Geige im Staatsorchester Stuttgart. Sie ist im Orchestergraben unmittelbar dabei, wenn auf der Opernbühne Papageno (Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart) oder Agathe (Freischütz von Carl Maria von Weber) ihre Arien schmettern. Bettina Penzel ist keine Ausnahme. Rund die Hälfte der Orchestermitglieder, die im Stuttgarter Staatsorchester erste Violine spielen, sind Frauen. Über alle Instrumentengruppen hinweg zählt das Staatsorchester rund 130 Musiker.

Was eigentlich normal sein sollte, war es lange Zeit nicht. In der Vergangenheit war Orchestermusik im Grunde Männersache. Für eine Frau ist es unschicklich, ein Cello zwischen den Beinen zu haben. Oder: Ein Blasinstrument verunstaltet das weibliche Gesicht. Das waren typische (männliche) Argumente, warum Musikerinnen nicht öffentlich auftreten sollten, erläutert der Musikwissenschaftler Christian Ahrens. Noch 1987 waren gerade mal zwölf Prozent der Orchestermitglieder weiblich. Mittlerweile sind es 38 Prozent. Tendenz steigend. Denn unter den jungen Musikern liegt der Frauenanteil bei mehr als 50 Prozent.

Die Frauen mussten sich ihren Platz erkämpfen. Dies galt vor allem für die hoch angesehenen und finanziell gut ausgestatteten Spitzenorchester. „Da wo das Geld ist, sind die Männer“, beschreibt Ahrens die Lage. Er muss es wissen. Ahrens, emeritierter Professor an der Ruhr-Universität Bochum, hat sich in seiner Studie „Der lange Weg von Musikerinnen in die Orchesterwelt“ des Themas angenommen. Bis heute sind in den Spitzenorchestern vergleichsweise wenig Frauen.

Dass die Frauen, die in ein Orchester strebten, nicht zart besaitet sein durften, zeigt das Beispiel Abbie Conant. Die amerikanische Posaunistin setzte sich – in den 1980er Jahren – in den Bewerbungsrunden für eine Solistenstelle bei den Münchner Philharmonikern erfolgreich gegen die männliche Konkurrenz durch. Doch ihr Erfolg erfreute sie zunächst nur im ersten Probejahr; dann wurde sie in die zweite Posaune versetzt. Ein Zitat des damaligen Chefdirigenten ist überliefert: „Du kennst das Problem. Wir brauchen einen Mann für die Solo-Posaune“, soll er der jungen Frau gesagt haben. Conant zog vor Gericht – und hat in einem langjährigen Rechtsstreit – gewonnen. Besonders rückständig in Sachen Gleichbehandlung waren die Wiener Philharmoniker; erst 1997 haben sie Bewerbungen von Musikerinnen überhaupt zugelassen.

Bettina Penzel, die in der damaligen DDR aufgewachsen ist, hat solche Querelen nicht kennengelernt. Die Karriere der Brandenburgerin, deren Vater Hobby-Pianist war, ist stringent. Mit drei Jahren bekam sie ihre erste Geige, mit elf ging sie in ein Internat mit dem Schwerpunkt Musik. „Egal ob bei Sport oder Musik, im Osten wurde Nachwuchs gesucht und gefördert“, sagt sie. Ihre erste Stelle als Musikerin hatte sie in Berlin beim Rundfunkorchester; 1995 wechselte sie nach Stuttgart ins Staatsorchester. In Stuttgart sind ihre beiden fast erwachsenen Töchter auf die Welt gekommen. Probleme mit der Vereinbarkeit von Familie und Orchester sieht sie nicht. Bereits ein Jahr beziehungsweise sechs Monate nach der Geburt ihrer Kinder hat sie wieder voll gearbeitet. Überbrückt hat sie die Zeiten, wo sie außer Haus war, mit Tagesmutter und einer „Heerschar von Babysittern“. Teilzeit ist im Staatsorchester möglich – aber nur als 50-Prozent-Stelle. Über weitere Angebote wird derzeit diskutiert. Noch hat sich Teilzeit nicht so recht in den Orchestern durchgesetzt. Rund 15 Prozent der Musiker, schätzt Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, würden nicht voll arbeiten.

Ein typischer Arbeitstag von Penzel beginnt mit einer etwa zweieinhalbstündigen Probe am späten Vormittag, und endet mit der Aufführung am Abend. Die Nachmittage sind frei. Die Übungszeit zu Hause wird – zumindest in einem gewissen Umfang – als Arbeitszeit gewertet. Ein Tag pro Woche ist garantiert frei. Ein Opernmusiker hat besonders viele Abendveranstaltungen – „zwischen vier und fünf pro Woche“, so Penzel. Auch Weihnachten, Ostern und der Jahreswechsel sind Arbeitstage. „Nur der 24. Dezember und der 1. Mai sind garantiert frei“, sagt sie. Ein Problem ist das für sie nicht: „Das weiß man, wenn man Musikerin wird.“

Dennoch sind Orchesterstellen begehrt – und knapp. Deutschlandweit gibt es 129 öffentlich finanzierte Profi-Orchester – dazu gehören staatliche und städtische Orchester sowie Rundfunkorchester. Nicht zuletzt durch Fusionen ist deren Zahl seit Beginn der 1990er Jahre um rund 40 gesunken. In diesem Zeitraum hat sich auch die Zahl der Stellen reduziert – von 12 159 auf mittlerweile 9746. Die Fluktuation ist gering in Orchestern, entsprechend niedrig ist auch die Zahl der offenen Planstellen. Gerade mal 120 bis 150 würden pro Jahr ausgeschrieben, schätzt Mertens. Auf diese bewerben sich bis zu 3500 Jungmusiker – Absolventen der hiesigen Musikhochschulen, so Mertens. Hinzu kämen ausländische Interessenten. Bezahlt wird nach Tarif. Die Zahl der Orchester, die unter Tarif zahlen, habe sich reduziert, sagt Mertens.

Aber wie nun haben es die Frauen geschafft, doch noch einen der begehrten Orchesterplätze zu ergattern? Man bediente sich dafür nicht zuletzt eines Tricks – des Vorhangs. Damit es auch wirklich nur auf die Musik und nicht etwa auf das Geschlecht ankam, spielten Bewerber – für die Jury nicht sichtbar – zunächst hinter einem Vorhang. Alles was auf das Geschlecht hinweisen konnte – wie etwa Pumps – war tabu. Auch das Staatsorchester Stuttgart kennt den Trick – er werde angewendet, wenn der „Vorspielende bekannt“ ist, so Penzel.

Bei Geigen, Flöten, Hörnern oder Harfen ist der Frauenanteil besonders hoch. Und dürfte noch steigen. Denn an den Hochschulen sind 91 Prozent im Fachbereich Harfe weiblich; bei der Flöte sind es 74 Prozent, erläutert Ahrens. Nur am Schlagzeug nehmen kaum Frauen Platz – an den Hochschulen liegt der Frauenanteil bei 15 Prozent, in den Orchestern sind sie bisher noch nicht angekommen, fügt Ahrens hinzu.