Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - Schon im elften Jahr existiert „Der Sommer in Stuttgart“. Das Festival für Neue Musik, welches in Kooperation von Musik der Jahrhunderte, Akademie Schloss Solitude, SWR, Ensemble Ascolta und Stuttgarter Kammerorchester veranstaltet wird, begann am Donnerstagabend mit einem spielerischen Blick zurück: Für Sergej Diaghilev hatte Erik Satie 1917 in Paris ein „Ballet réaliste“ mit Pappmaché-Figuren von Picasso komponiert, welches nun in einem Arrangement von Andrew Digby für die neun Musiker von Ascolta im Theaterhaus zur Aufführung kam. Zwischen Ragtime und formelhaften Versatzstücken entwirft Saties „Parade“ ein siebenteiliges unterhaltsames Panorama, zu dem die israelische Performance-Künstlerin Li Lorian via Projektion, Papierschiffchen und Lichtergirlanden an die Umstände der Uraufführung erinnerte, in der der Dichter Guillaume Apollinaire „une sorte de surréalisme“ erkannte. Dadaistisch wurde es danach mit René Clairs Stummfilm „Entr’acte“, zu dem das Ensemble Ascolta sowohl Saties dafür komponiertes Stück „Cinéma“ als auch die Neukomposition „En tractant“ von Martin Smolka spielte: ein reizvoller Vergleich, wo dem flotten Witz Saties die detailliertere Aneignung Smolkas begegnete. Andrew Digbys Bearbeitung für Holz- und Blechbläser, Klavier, E-Gitarre, Cello und doppeltes Schlagzeug, souverän dargeboten vom Ensemble (in dem Digby Posaune und Euphonium spielt), unterstrich den Varieté-Charakter des Originals.

Meditative Ferrari-Geräusche

Zad Moultakas „UM“ führte im zweiten Konzert mit dem französischen Ensemble instrumental Ars Nova und den Neuen Vocalsolisten unter der Leitung von Philippe Nahon in völlig andere Klangwelten. Die Koproduktion mit dem Pariser IRCAM ist inspiriert vom tibetischen Totenbuch. Mit Flüstern, Zungenschnalzen, vereinzelten Lauten und Silben beginnt das einstündige Werk, Tonbewegungen weiten sich zu Dezimintervallen, die sechs Vocalsolisten entwickeln im Kontrast von tief resonanten Männer- und luftig transparenten Frauenstimmen einen litaneiartigen Singsang, in den sich Flöte und Klarinette, Viola und Cello einschalten. Durch gewalttätig forcierte Blechbläser-Tutti droht die Klangarchitektur in sich zusammenzustürzen, und erst jetzt kommt Elektronik hinzu: Zusammen mit dem IRCAM-Programmierer Gilbert Nouno hat Zad Moultaka die Motorengeräusche eines Ferrari als einer Geräuschikone westlicher Zivilisation so transformiert, dass sie den Mantras tibetanischer Mönche ähneln und dadurch eine Beruhigung der musikalischen Struktur erfolgt. Der letzte Teil des Stücks wird von einem faszinierenden Dialog der Klänge zwischen bogengestrichenen Vibraphonstäben und Zuspiel-Orgelton eingeleitet, der sich am Ende zu einem sanft tönenden Universum von Chorstimmen, Instrumenten und Elektronik weitet: eine organisch sich entfaltende Komposition, die am Schluss in Sphärenklängen entschwebte.