Was ist ein Leben wert? „Nicht genug“, antwortet der Geschäftsmann. Foto: Michael Schill Quelle: Unbekannt

Von Maria Krell

Stuttgart - Ein Hotelzimmer in Kinshasa: Eine attraktive Frau sitzt zurückgelehnt mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel. Ihr gegenüber erzählt ein Mann einen Witz. Sie lacht. Er macht ihr Komplimente. Im Hintergrund summt ein Deckenventilator. Es ist nicht der Anfang einer Liebesgeschichte, allenfalls der Auftakt zu einer kleinen erotischen Nebensache. Denn eigentlich ist sie Übersetzerin und soll dem reichen Geschäftsmann die Worte eines Einheimischen übersetzen. Dieser alte, todkranke Mann aus dem Kongo will nur eines: Dass der Geschäftsmann sich seines Sohnes annimmt, ihn nach Europa bringt und dort in irgendeinen Job vermittelt; egal was, Hauptsache weg aus dem krisengeschüttelten Land.

Das Stück „Nach mir die Sintflut“ der katalanischen Dramatikerin Lluïsa Cunillé hatte jetzt an der Stuttgarter Tri-Bühne Premiere. Angesichts der Armutsemigration aus afrikanischen Ländern hätte sich Regisseur Alejandro Quintana für seine Inszenierung in Renáta Baloghs stark reduziertem Bühnenbild kaum ein aktuelleres Thema aussuchen können. „Nach mir die Sintflut“ soll Joseph-Désiré Mobutu, Diktator im damaligen Zaire, gesagt haben, als er 1997 ins Exil floh. Im Stück sind es die letzten Worte, die der Ehemann der Übersetzerin an diese gerichtet hatte.

Ausreden, Ignoranz, Skrupel

Wo könnte die bessere Zukunft beginnen, die der Vater seinem Sohn bieten will, wenn nicht in Europa, dem gelobten Land? Doch zuvor muss er den Geschäftsmann überreden, seinen Sohn mitzunehmen, ihn mit allerlei Argumenten davon überzeugen, dass er den jungen Afrikaner brauche. So stehen die beiden Protagonisten gleichsam für das Verhältnis von Europa zu Afrika, für das globale Ungleichgewicht: auf der einen Seite ein verkrüppelter und verzweifelter Vater, der auf der Bühne unsichtbar bleibt und nur durch die Stimme der Übersetzerin spricht. Auf der anderen der europäische Geschäftsmann, blass, glatzköpfig, die Augen gerötet und von Schatten umgeben, ebenfalls krank, der Körper von Narben gezeichnet.

Ob er nicht der Agent seines Sohnes werden und ihn in eine Fußballmannschaft vermitteln könne?, fragt der Vater durch die Übersetzerin. „Afrikanische Spieler haben in Europa den Ruf, undiszipliniert und nicht sehr einsatzfreudig zu sein“, entgegnet der Mann. Er könnte sein Leibwächter werden? Am meisten Angst habe er vor den Bienen in Kinshasa, sagt der Europäer. Oder Chauffeur? „Ich habe schon einen Chauffeur in Kapstadt.“

Christian Werner spielt die Rolle des Mannes, der in Cunillés Stück keinen Namen bekommt, ausgezeichnet. Wütend, genervt, dann nachdenklich weist er alle Angebote zurück. Manchmal mit Ausreden, gespickt mit stereotypen Vorurteilen, manchmal aus Ignoranz, manchmal aus Skrupel: Sollte der Sohn nicht bei seinem kranken Vater bleiben? Was für eine Zukunft könne er ihm schon versprechen? Doch dann entsteht für kurze Momente eine Verbindung zwischen den Beiden - etwa als der Mann erfährt, dass der Sohn als Kindersoldat jahrelang kämpfen und töten musste. Der egoistische Geschäftsmann, der mit dem Rohstoff Koltan handelt, spürt sein Gewissen - und siecht vor dem Publikum dahin. Immer wieder krümmt er sich schmerzverzerrt zusammen. Vielleicht hat der in Mengen fließende Alkohol ihn krank gemacht, vielleicht die Gier. Jetzt trifft ihn auch seelische Pein.

Natascha Kuch als Übersetzerin hat mittlerweile jenen flatterhaften Leichtsinn abgelegt, der ihr zu Beginn der Szene eigen war. Sie scheint zu verschmelzen mit der Person des Vaters, der im Stück nur durch einen leeren Sessel repräsentiert wird. Sie fleht, schreit, ist euphorisch und wütend - vergebens: Der Sohn soll in Zaire bleiben. Schließlich schreit der Mann: „Sie sprechen mit einem Arschloch von weißem Geschäftsmann, sie müssen ihm etwas anbieten, was er wirklich braucht.“ Die Übersetzerin antwortet: „Ich habe Ihnen meinen Sohn angeboten.“ Das sei nicht genug, entgegnet er kühl.

In diesen wenigen Worten offenbart sich die ganze Tragödie. Der Wert eines menschlichen Lebens ist nicht hoch genug. Erst als der Vater aufgibt, entschließt sich der Mann anders: Er wolle den Sohn doch mitnehmen, er brauche ihn. Dafür sei es zu spät, antwortet die Übersetzerin. Der Sohn ist tot. Der Vater lässt mitteilen: „Ich wollte, dass ihn noch jemand außer mir vermisst.“ Ende des Dramas, Mann und Übersetzerin wechseln in ihren oberflächlichen Flirt zurück. Elend und Mitgefühl scheinen sofort vergessen. Doch nicht ganz. Der Mann greift zu seiner Beretta und erschießt sich.

Die nächsten Vorstellungen: heute und morgen sowie 17. Mai, 7., 15. und 23. Juni, 12. und 14. Juli.