Das WLB-Intendantenduo Friedrich Schirmer (links) und Marcus Grube präsentiert den neuen Spielplan. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

Kritisch reflektierte Zeitgeschichte, regionale Stoffe oder beides gleichzeitig, verbunden mit Klassikern und neu zu entdeckenden Stücken: Die Esslinger Landesbühne (WLB) hält in der Saison 2020/21 an ihrem Spielplankonzept fest, das ihr bislang glänzende Besucherzahlen beschert.

EsslingenVorab der Zahlensegen: Die Esslinger Landesbühne (WLB) hielt in der vergangenen Saison 2018/19 nicht nur künstlerisch, sondern auch bei der Publikumsgunst das hohe Niveau. Insgesamt 113 221 Zuschauer sahen die Vorstellungen in Esslingen und den Gastspielorten – die zweitbeste Bilanz seit 30 Jahren nach dem Rekord 2017/18 mit 122 343 Besuchern. In Esslingen ging die Besucherzahl 2018/19 mit 67 323 Zuschauern nur geringfügig zurück, zu den Gastspielen kamen mit 45 898 Besuchern etwas über 9000 weniger – erwartungsgemäß, denn der Kraftakt der Rekordsaison mit seiner hohen Zahl von auswärtigen Vorstellungen ist nicht beliebig wiederholbar, erklärte WLB-Intendant Friedrich Schirmer schon vor einem Jahr. So betrachtet sind auch die jüngsten Zahlen glänzend, zumal das Wetter seinen Glanz den populären Freilichtvorstellungen gelegentlich verweigerte: Vier Mal fiel der „Besuch der alten Dame“ im Sommer ins (Regen-)Wasser, zu den 16 „trockenen“ Vorstellungen kamen 7121 Zuschauer auf den Esslinger Kesslerplatz. Christof Küsters Inszenierung belegt so den zweiten Platz nach dem Familienstück „Frohe Weihnachten!“ mit insgesamt 8549 Zuschauern.

KZ-Wärterin und Analphabetin

Bis Weihnachten ist es noch einige Zeit hin, dennoch beschert die WLB ihrem Publikum schon jetzt den Spielplan 2020/21 – im Hinblick auf den Gastspielmarkt lange vor den Stadt- und Staatstheatern. Den Auftakt macht einer der aufsehenerregendsten Romane der 90er-Jahre: Bernhard Schlinks „Der Vorleser“. Die Liebesgeschichte eines 15-Jährigen und der weit älteren Hanna, die sich als frühere KZ-Wärterin entpuppt, handelt nicht nur von einer Tabus brechenden Liaison, sondern stellt die Frage nach moralischer Verantwortung unter einem besonderen Aspekt, denn: Hanna ist Analphabetin. In Zeiten des Rechtspopulismus durchaus aktuell rückt so das Verhältnis von Manipulierbarkeit, fehlender Aufklärung und fremdbestimmtem Bewusstsein in den Fokus. Schlink selbst schreibt zusammen mit Mirjam Neidhart die Bühnenfassung – und will offenbar ein waches Auge auf die Inszenierung werfen: Der Autor werde nach Esslingen kommen und den Probenprozess aktiv begleiten, kündigt WLB-Intendant Friedrich Schirmer an.

Setzen Schirmer und sein Co-Intendant Marcus Grube – seit Beginn dieser Saison ein Führungstandem – mit diesem Stoff die kritische Reflexion von Zeitgeschichte fort, widmet sich Jörg Ehnis „Wagner und Fritz“ einem regionalen Fall: dem des ehemaligen Lehrers und Massenmörders Ernst August Wagner, der am 4. September 1913 in Stuttgart und in Mühlhausen an der Enz 14 Menschen tötete. Wegen Verfolgungswahn wurde Wagner in die Heilanstalt Winnenden eingewiesen, brüstete sich dort als „erster Nationalsozialist der Anstalt“ – und dichtete Dramen. Ehnis Stück zeigt den Mörder bei dieser Erschaffung einer eigenen Welt.

In Edoardo Erbas „New York Marathon“ schwindet zwei trainierenden Läufern mit dem Atem auch die vertraute Realität – und komödiantisch-katastrophisch öffnet sich der Abgrund existenzieller Sinnfragen. Das Erfolgsstück des italienischen Autors von 1992 wird tatsächlich zum ersten Mal auf einer deutschsprachigen Bühne gezeigt – in der Neuübersetzung der WLB-Dramaturginnen Anna Gubiani und Stephanie Serles. Mit dem Sinn droht in Jean-Michel Räbers „Gehen oder Der zweite April“ auch das Leben zu schwinden: Nach den ersten Anzeichen von Alzheimer beschließt ein altes Ehepaar den gemeinsamen Suizid – zur Empörung seiner längst erwachsenen Kinder, die als Wachtruppe anrücken und ein bitter-komisches Gefühlschaos anrichten.

Nach all der Untergangstragikomik zeigt denn Lessings „Minna von Barnhelm“, die klassische Komödie der Aufklärung schlechthin, wie man Traumata und falschen Ehrgefühlen entkommt. Eine konsequente Underdog-Perspektive auf Standesdünkel, Herrschaftsgehabe und eigenes Hungerleider-Elend öffnet indes Carlo Goldonis „Diener zweier Herren“, eines der unwiderstehlichsten Lachstücke der Dramenliteratur, aber mit höchst subversivem Gehalt. Hier lässt sich Schirmer ausnahmsweise schon mal die Regiebesetzung entlocken: Markus Bartl – an der WLB bereits zugange mit „Oberösterreich“, „Die Nashörner“ und „Faust I – Reloaded“ – wird inszenieren.

In Ferenc Molnárs „Liliom“, einem erklärten Lieblingsstück der WLB-Intendanten, fällt ein Raufbold und Frauenheld in alte Verhaltensmuster zurück, als ihn nach seinem Selbstmord das himmlische Strafgericht zur Bewährung auf die Erde zurückschickt. Ebenso legendenhaft: „Vom Suchen und Finden der Liebe“ – ein Stück, das die mit „Schtonk!“ begonnene Helmut-Dietl-Connection fortsetzt. Das von Dietl 2005 zusammen mit Patrick Süskind verfasste Drehbuch – eine Variation des Orpheus- und Eurydike-Mythos – floppte als Film. Als Theaterstück aber müsste die Story um den Komponisten Mimi, seinen Suizid und seine geliebte Sängerin Gretel bestens funktionieren, ist Marcus Grube überzeugt. Er schreibt die Bühnenfassung und führt Regie.

Ebenfalls ein WLB-Klassiker: Oliver Storz. Mit seinem Roman „Die Freibadclique“ bringt die WLB die Geschichte einer verlorenen Jugend auf die Bühne. In einem Schwäbisch Haller Freibad im Sommer 1944 schwärmt eine Gruppe von 15-Jährigen für Musik und Mädchen. Ein Jahr später sind sie wieder im Freibad, aber alles ist anders: Ein Teil der Clique fiel dem Krieg zum Opfer, in den sie geschickt wurden. Die Überlebenden sind verändert.

Aus der Retrospektive ereilen die Schrecken des Zweiten Weltkriegs in „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur eine in der holländischen Metropole lebende israelische Musikerin. Durch einen Zufall wird sie mit Ereignissen in ihrem Wohnhaus während des Kriegs konfrontiert: Im Schatten der dunklen Vergangenheit wird ihr ihre Wahlheimat fremd, der Alltag erscheint ihr plötzlich feindselig.

Mit alldem ist auch der neue WLB-Spielplan ein sorgsam komponiertes Mosaik der Vergegenwärtigung – mit alten Bekannten, konsequent weitergeführten Linien und neu zu entdeckenden Texten.

Es geht um Emanzipation

An der Jungen WLB tritt der neue Spartenchef Jan Müller die Nachfolge von Marco Süß an. Im Spielplan trifft Tom Blokdijks moderne „Romeo und Julia“-Version für die Älteren auf Karoline Felsmanns Sprach-Stück „Immerfort in einem Wort“ für die Jüngeren: Ein Gärtner pflegt hier das Alpha-Beet. In „Satelliten am Nachthimmel“ entdeckt ein kleines Mädchen ein schwarzes Loch in ihrem Bauch, und nur ihr kleiner Bruder versteht sie. René Goscinnys kleiner Nick treibt seine Streiche, und in „Leon zeigt Zähne“ kämpft ein Junge gegen seine Schüchternheit: Es geht – nicht nur hier – um Emanzipation.

Bernhard Schlink: Der Vorleser. Uraufführung der Bühnenfassung von Bernhard Schlink und Mirjam Neidhart Ende September 2020.

Jörg Ehni: Wagner und Fritz – Die Verfolgungsfantasien des Ernst Wagner. Uraufführung Ende September 2020.

Edoardo Erba: New York Marathon. Deutschsprachige Erstaufführung Mitte Oktober 2020.

Jean-Michel Räber: Gehen oder der zweite April. Premiere Mitte Oktober 2020.

Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück. Premiere Anfang Dezember 2020.

Ferenc Molnár: Liliom. Für die deutsche Bühne bearbeitet von Alfred Polgar. Premiere Mitte Januar 2021.

Carlo Goldoni: Der Diener zweier Herren. Premiere Mitte Februar 2021. Regie: Markus Bartl.

Helmut Dietl und Patrick Süskind: Vom Suchen und Finden der Liebe. Uraufführung der Bühnenfassung von Marcus Grube Mitte März 2021. Regie: Marcus Grube.

Maya Arad Yasur: Amsterdam. Premiere Mitte April 2021.

Oliver Storz: Die Freibadclique. Uraufführung Mitte Juni 2021. Gemeinschaftsproduktion mit der Jungen WLB.

Junge WLB

Karoline Felsmann: Immerfort in einem Wort. Ein Stück über das Wunder der Sprache für Zuschauer ab vier Jahren. Premiere im Oktober 2020.

Kristofer Blindheim Gronskag: Satelliten am Nachthimmel. Ab zehn Jahren. Premiere im Oktober 2020.

René Goscinny: Der kleine Nick. Ab sechs Jahren. Premiere im November 2020.

Silke Wolfrum: Leon zeigt Zähne. Ab sieben Jahren. Premiere im Februar 2021.

William Shakespeare: Romeo und Julia. In einer Bearbeitung von Tom Blokdijk für Zuschauer ab zwölf Jahren. Premiere Ende März 2021.