Alle mitmachen! Die Well Foto: Simon Wachter - Simon Wachter

Mitmach-Aktionen mit deftigem Volkstanz, barocker HipHop, körperliche Extreme: Das Stuttgarter Colours-Festival fasziniert mit Tanz in all seinen Facetten.

StuttgartAuch das ist Colours: Im Friedrichsbauvarieté dreht sich ein bunter Reigen aus Paaren in bayerischen Tänzen, klackert die Füße beim Hacke-Spitze auf den Boden, klatscht über Kreuz und fädelt sich, vom Zwölfjährigen bis zur Oma im langen Dirndl, lachend in langen Reihen umeinander herum. Bei einem der vier Tanztees zum Mitmachen spielen die Well-Brüder, die früheren Biermösl Blosn, bajuwarische Volksmusik und studieren vier Stunden lang Sautanz oder Siebenschritt mit den lernbegierigen Schwaben ein. Zwischendurch bejubeln die Volkstänzer Ballett- und Breakdance-Einlagen auf der kleinen Bühne: Colours ist gelebte Toleranz, denn hier gelten alle Stile, und alle sind gleich wichtig.

Es ist gerade der Mitmach-Faktor, der dieses moderne Tanzfestival von seinen elitäreren Konkurrenten unterscheidet, wo vor allem konzeptuelle oder performative Ideen gelten und das pure Tanzen bereits als altmodisch gilt; genau dies beklagt Choreograf Akram Khan in einem Interview im Programmheft. Wo andere Festivals den Diskurs unter Insidern in den Vordergrund schieben, macht Colours den modernen Tanz für alle zugänglich – zum Beispiel mit einem Abend wie „Folia“. Die Produktion aus Frankreich zeigt die gelebte, ja glückliche Versöhnung zweier Welten, die unvereinbar scheinen: Angetrieben von zwei Barockmusikern im Gehrock, die rasant alte Tarantellas geigen, zwirbeln hier Breakdancer ihre Schrauben auf den Boden – was für ein Bild! Mourad Merzouki, der französische Pionier des HipHop als Bühnenkunst, löst die virtuosen Tricks des Breakdance in ausdrucksvoller Bewegung auf, verlangsamt sie zu einer expressiven Kunst. Dem Anschein nach stammen seine 16 Tänzer aus den Banlieus der französischen Großstädte oder aus nordafrikanischen Städten. Merzouki konfrontiert sie mit dem feinen Barockensemble Concert de l’Hostel Dieu und den Koloraturen der Sopranistin Heather Newhouse, lässt sie mit Planetenkugeln spielen, baut ihnen eine federnde Kampfarena und vereint bis hin zum rasanten Finale ständig Dinge, die so eigentlich nicht zusammenpassen. Zum Schluss dreht sich ein Derwisch unglaubliche zehn Minuten lang um sich selbst und kreiselt den Sternenstaub aus dem Äther, wirbelt seine Kollegen mit wildem HipHop oder Polka-Schritten auf die Bühne, bis sie sich alle in sämtlichen Tanzarten drehen, auf Spitzenschuhen, auf dem Kopf stehend, mit jauchzenden Schreien. Selten war die gemeinsame Freude am Tanz so sichtbar wie in diesem poetischen, ungewöhnlichen Werk.

Aber auch im intimen Kammerspiel kann der Tanz bis an die Grenze dessen gehen, was ein Körper aushält. In „We are nowhere else but here“ testet der Amerikaner Stephen Shropshire die Grenzen menschlicher Koexistenz aus. Das Stück begrenzt die Bewegung oft aufs Minimum und wird doch immer heftiger, immer verstörender. Sehr leise weht Klaviermusik durch eine Türe, während ein Paar (Aimee Lagrange und Jussi Nousiainen) alle nur möglichen Formen des Einander-Festhaltens und Sich-Wegstoßens durchläuft. Kaum merklich wird ein Walzer zum Ringkampf, die Beiden gehen bis zum Rand ihrer Kräfte: wenn sie ihn keuchend minutenlang schleppt oder er fast zusammenbricht, weil sie auf seinen Schultern steht. Shropshire spielt mit Symmetrien und dem Ausbruch daraus, so stark physisch wird der Tanz manchmal, dass man als Zuschauer zusammenzuckt. In dieser Zweierbeziehung steht nur eines außer Frage: dass man sich aushält, egal was passiert.

Gegen eine solche Tour de force mit minimalsten Mitteln bleibt der New Yorker Choreograf Bryan Arias zu sehr im Vagen, mixt vom Nietzsche-Spruch an der Wand über Flattermann-Kostüme, ausführliche Pantomime-Szenen, Schwofen, Gender-Problematik, Geräusche und Projektionen viel zu viel hinein in seine Uraufführung „Watch“. In Gelb und Schwarz, den Farben des düsteren Comic-Romans „Watchmen“ aus den 80er Jahren, treten die vier Mitglieder seiner kleinen Kompanie an und spielen mit den klischeehaften Posen von Superhelden, bevor sie sich als echte Helden, etwa Ärzte, unters Volk mischen. Arias‘ Bilder bleiben zu unentschlossen, zu wenig prägnant, der Tanz wird nur selten zum sinntragenden Ausdrucksmittel, verliert ständig gegen Text, Kostüme, Pantomime. Aber vielleicht kennen wir Europäer einfach die New Yorker Superhelden zu wenig.

www.coloursdancefestival.com