Foto: Joachim Gern Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

Stuttgart - Jetzt ist Hochsaison für Blutorangen, jener herb-süßen Früchte, die dem Leser auf dem Cover von Verena Boos’ Familienroman einer Orangenhändlerdynastie aus Spanien so saftig entgegenleuchten. Hinter der ästhetischen Aufmachung könnte sich auch ein Kochbuch verbergen. Aber es ist mitnichten leichte Kost, welche die 40-jährige Autorin aus Rottweil auf 400 Seiten in ihrem stimmig arrangierten Erinnerungsroman „Blutorangen“ (Aufbau Verlag) serviert. Die promovierte Historikerin, die zwei Jahre in Spanien gelebt hat, bricht in ihrem Buch den „Pakt des Schweigens“, der sich über die Verbrechen des Franco-Regimes gelegt hat.

Im Rahmen der Stuttgarter Buchwochen mit Gastland Spanien las Verena Boos (Bild) im Buchcafé im Haus der Wirtschaft aus ihrem vielfach preisgekrönten Roman, der 2015 als bestes Debüt ausgezeichnet wurde. Doch es war viel mehr als ein schnödes Runterraspeln ausgewählter Textpassagen, von denen man hofft, einen Einblick in die Geschichte zu erhalten, was meistens nicht gelingt. Astrid Braun, Geschäftsführerin des veranstaltenden Schriftstellerhauses, moderierte den Abend. Die Zuhörer bekamen dadurch den komplexen Inhalt nicht nur kurz umrissen, sondern erfuhren Erhellendes zur Motivation und den Hintergründen, die zu dieser 80 Jahre umspannenden Zeitreise führten, in der die deutsche und spanische Geschichte, spannend, wie ein Krimi, verknüpft wird.

Willkommene Flucht vor dem Vater

Braun arbeitete durch gezielte Fragen den politisch-ethischen Anspruch des Buches heraus, der der Autorin besonders wichtig ist. Verena Boos selbst war bei der Exhumierung von Opfern des spanischen Bürgerkriegs und der Franco Diktator dabei, spricht von zigtausenden Toten, irgendwo, in anonymen Gräbern im ganzen Land verscharrt. Sie sieht es als moralische Pflicht, das Schweigen über Taten und Toten zu durchbrechen. Die Hauptfigur in „Blutorangen“, Maite, tut das mit gezielten Fragen.

Für die junge Spanierin bedeutet das Studiensemester in München eine willkommene Flucht vor ihrem konservativen Vater Francisco, einem Obstplantagenbesitzer aus Valencia. Die Blutorangen werden zum Symbol, das sich durch die gesamte Handlung zieht. Auch im Leben von Antonio, dem Großvater von Carlos, in den sie sich verliebt, spielen die Zitrusfrüchte eine Rolle. Der spanische Emigrant baute sich nach dem Krieg eine Existenz mit Im- und Export von Obst auf dem Münchener Großmarkt auf.

Personal, Orte und Zeitebenen sind üppig. Um überhaupt einen Eindruck aus der Fülle von Figuren und Handlungsmustern zu vermitteln, konzentrierte sich die Autorin in ihren beiden Lesepassagen auf die Figur Antonios. August 1940. Antonio ist ein Jahr zuvor mit Frau und Kind aus Spanien nach Frankreich geflohen. Jetzt sitzt er mit 71 Personen im fensterlosen Waggon, der ihn von Frankreich nach Deutschland bringt. Frau und Kind sind ihm unter dramatischen Umständen abhandengekommen. „Rattern, Hitze, Gestank.“ Es sind dürre Worte, mit denen Verena Boos das Grauen schildert, die darum umso eindringlicher wirken: kein Essen, kein Trinken. „Man wird irre. Atmen gegen die Angst.“

Rückblick aufs Leben zweier Männer

Dann wieder zeichnet sie sprachlich-poetische Bilder, die für die Ewigkeit gemacht scheinen, wenn sie schreibt: „Der Tag kippt in den Abend, Licht schleicht aus dem Himmel.“ Mit großem erzählerischem Talent schildert sie die traumatischen Erlebnisse Antonios, der sich auf dem schlecht bewachten Münchner Bahnhof absetzt. Der Deportationszug fährt ohne ihn nach Mauthausen, wo die Flüchtlinge das Konzentrationslager aufbauen müssen. „Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, antwortet Boos auf die Frage Brauns, ob ein Spanier auf diese Weise hätte in München landen können. Überlebende sollen später gesagt haben, dass sie die Flucht hätten wagen können, wenn sie gewusst hätten, was auf sie zukommt.

Die einzelnen Episoden folgen keiner stringenten Chronologie, gestatten Rückblicke auf das Leben der beiden Männer aus politisch unterschiedlichen Lagern. Die Schicksale von Antonio und Francisco sind auf konträre Weise miteinander verwoben. Maite schließt einen Pakt mit Antonio, der ihr hilft, dem Gefühl auf den Grund zu gehen, dass etwas nicht stimmt in ihrer Familie. Weshalb ist ihr Vater, Mitglied der umstrittenen Guardia Civil, auf einem alten Foto in Wehrmachtsuniform zu sehen? Auch Antonio stellt sich bei einem Heimatbesuch der Vergangenheit, während bei Grabungen „nach Gebeinen und Geschichten“ von Opfern der Franco-Diktatur gesucht wird.

Die Stuttgarter Buchwochen im Haus der Wirtschaft gehen bis 3. Dezember.