Bleiche Insassen einer Anstalt leiden in Shaked Hellers starker Choreografie „Arpatruf“. Foto: Stuttgarter Ballett - Stuttgarter Ballett

Die Noverre-Gesellschaft präsentiert junge Choreografen beim Stuttgarter Ballett – und löst sich anschließend auf.

StuttgartSechzig Jahre Ballettbegeisterung, 202 mutige Choreografie-Anfänger mit 400 Stücken, Entdeckungen, Vorträge, Reisen – und das soll jetzt alles zu Ende sein? 1958 wurde Noverre-Gesellschaft der Freunde des Balletts von Fritz Höver gegründet, jetzt steht sie vor der Auflösung, wie gestern nach ihrem „Junge Choreografen“-Abend zum 60. Jubiläum verkündet wurde. Es finden sich einfach nicht mehr genügend Mitglieder, die nach Hövers Tod vor drei Jahren noch Verantwortung übernehmen wollen.

Während dankbare Choreografen-Entdeckungen wie John Neumeier oder William Forsythe schriftlich vom Zwischenvorhang herabgrüßten, war auf der Bühne im Schauspielhaus erneut zu besichtigen, was die Noverre-Gesellschaft fürs Stuttgarter Ballett bedeutet hat: zehn neue Stücke, originelle und weniger tolle, aber allesamt von handwerklich beachtlichem Niveau und mit einer dezidierten Idee im Zentrum. Aurora de Mori etwa schuf ein fließendes Kammerballett für ein Paar und sein Spiegelbild, sie übertrug die spätromantische Stimmung von Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“ in weiche, sehnende Bewegungen. Kirill Kornilov stellte die Ausdrucksstärke seines Kollegen Shaked Heller in einem expressiven, schulterbetonten Solo heraus.

Anfänger- und Durchbruchswerke

Wie immer gab es auch echte Anfängerstücke: Adrian Oldenburgers Duo um einen sterbenden Krebskranken etwa wirkte bei allem Mut zu diesem Thema und bei aller Intensität der Bewegungen ein wenig naiv im Ansatz. Jessica Fyfe untersuchte das Phänomen der Unordnung ausgerechnet mit einem rein akademischen Bewegungsrepertoire. Ein Durchbruchswerk dagegen war „Alba mendax“ von Alessandro Giaquinto, der zu lasziven Jazzsongs vier Individualisten und eine Braut im titelgebenden „trügerischen Weiß“ zusammenwürfelte. Sein hochmusikalischer Stil hat definitiv eine eigene Note, tanzt gleichzeitig grotesk und lässig dahin, das Stück wirkte wie der Blick in ein Paris der fröhlichen Existenzialisten. Davon wollen wir mehr sehen! Ebenso interessant, fast noch grotesker bewegten sich die bleichen Insassen einer Anstalt, die Shaked Heller in seiner Choreografie „Arpatruf“ in farblosen Spielanzügen leiden und darüber hinweg spielen ließ. Auch hier war alles da: Atmosphäre, Emotion, ein Rahmen, ein persönlicher Stil.

Zu den Gästen von außerhalb gehörte der Slowake Martin Winter vom Wiener Staatsballett. Sein Pas de deux für Miriam Kacerova und Roman Novitzky zerfiel bei aller Vielfalt zwischen nervös und gefühlig ein wenig in Einzelteile, weil die Musik von Max Richter immer wieder angehalten wurde. Andreas Heise tanzt beim Norwegischen Nationalballett und hat schon einiges choreografiert; Sein „Nachtstück“ setzt zu einem Beethoven-Adagio E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“-Novelle als ebenso minimalistischen wie expressiven Pas de trois in Szene – ohne Schnörkel, dicht und intensiv. Von Gauthier Dance kamen David Rodriguez und Luke Prunty mit einem effektvollen, eher tanzarmen Duo zum Weltfrieden – für die herabregnenden Federn mussten einige Friedenstauben sterben. Filipe Portugal, beim Zürcher Ballett bereits arrivierter Choreograf, setzte zu Arvo-Pärt-Musik auf kühle Bewegungsstudien; sein Stück wirkte bei aller handwerklichen Raffinesse seltsam distanziert.

Der gute Ruf des Stuttgarter Publikums gehört ebenfalls zu den Errungenschaften Fritz Hövers, hier spendete es reichlich ermutigenden Applaus für alle, aber man vernahm durchaus die feinen Nuancen. Der Noverre-Abend ist immer eine Gelegenheit, die junge Tänzergeneration des Stuttgarter Balletts zu beobachten – Agnes Su, Flemming Puthenpurayil, Timoor Afshar, Daniele Silingardi, Veronika Verterich, Diana Ionescu, Daiana Ruiz und ihre vielen Kollegen waren starke Interpreten.

Auch nach der Auflösung der Noverre-Gesellschaft werden die „Jungen Choreografen“ als Format erhalten bleiben. Das Stuttgarter Ballett wäre schön blöd, seine kreative Quelle abzuwürgen: nicht nur die ganz Großen wie Jirí Kylián haben hier ihre ersten Stücke kreiert, auch sämtliche Hauschoreografen, die man nach John Crankos Tod ernannt hat. Fritz Höver und seine Mitstreiter haben ein Modell der Nachwuchsförderung im Tanz etabliert, das international Schule gemacht hat und das bleiben wird.