In der Choreografie von Juliette Villemin boten die Tänzer Hygin Delimat und Marina Grün sowie die Violinistin Ulrike Stortz (von links) mit Steve Reichs „Violin Phase“ beim Auftakt zum TonArt-Festival Genuss für Ohr und Auge. Foto: Weiß Quelle: Unbekannt

Von Gaby Weiß

„Humorvolles und Nachdenkliches, Virtuoses und Elegisches aus Amerika“: Das verhieß das Programm für die Eröffnung des TonArt-Festivals für zeitaktuelle Musik, das in elf Veranstaltungen bis zum 25. Februar besondere Hörerlebnisse in Sachen neuer und neuester Musik verspricht. Und das gut besuchte „Opening“ im Kulturzentrum Dieselstraße war ein verheißungsvoller Auftakt. Obwohl die Erkrankung einer Sängerin eine Programmänderung notwendig machte und Bariton Frank Wörner wegen Sturmtief „Friederike“ zu Konzertbeginn noch im Zug saß. Kurzfristig fand sich Ersatz, das Programmheft wurde umgeschrieben, die Technik zeigte sich auf alle Eventualitäten vorbereitet - und als Frank Wörner kurz vor Schluss doch noch eintraf, gab es spontan Applaus fürs Engagement der Festivalmacher.

Hatten Interpreten neuer und neuester Musik vor Jahren noch eine Ehrfurcht gebietende Rühr-mich-nicht-an-Attitüde, präsentieren sich die Musiker und Sänger längst nicht mehr unnahbar, sondern bieten sich als Vermittler an. „Sprechen Sie mich nachher an“, ermunterte die Pianistin Neus Estarellas, die die Zuhörer mit ihren performativen Stücken faszinierte. Mark Applebaums „Aphasia“ entwickelt aus hyperpräzisen Gesten bei völlig ausdruckslosem Gesicht eine ausdrucksstarke Nonsens-Sprache außerhalb jeglichen Kontexts. „Henry Cowells Stücke sind harmonisch einfacher und konservativer als John Cage, aber Cowell hat Jahre vor Cage ‚im Klavier‘ gespielt“, erläuterte Estarellas, bevor sie sich an den präparierten Flügel setzte, bei dem die Saiten manipuliert werden, um ungewöhnliche Töne und Klangeffekte zu erzeugen.

Zuvor hatte Georg Wötzers „The Attack“, das unter dem Eindruck des Anschlags auf das World Trade Center entstanden ist, Beklemmung fühlbar gemacht: Sehr symbolisch inszeniert, scheitern die beiden Instrumentalisten. Weder Kommunikation noch Zusammenspiel sind möglich, weil sich Realität und Erinnerungen dazwischen drängen: Da werden die Namen von Opfern von 9/11 gerappt, und Gedanken reichen weit in die deutsche Geschichte hinein.

Die Minimal-Music wurde als Ausschnitt der abendfüllenden Tanzperformance „Synchronicity“ präsentiert, die Steve Reichs „Violin Phase“ visuell und ästhetisch zu einem Gesamt-Kunstwerk aus Musik und Tanz aufgearbeitet hat. In der Choreografie von Juliette Villemin agierten die Tänzer Marina Grün und Hygin Delimat sowie die Violinistin Ulrike Stortz: Ein stetes Pulsieren im Ton und in der Bewegung.

Frank Wörner interpretierte John Cages „Aria“, das zu den bedeutendsten Vokal-Kompositionen der Neuen Musik zählt, mit großem stimmlichen und dramatischem Können. Das Publikum konnte die Notation, ein kalligrafisches Kunstwerk, mitlesen: Isolierte Konsonanten, Wörter in fünf Sprachen, farbige Linien und Wellen, schwarze Quadrate fürs Nicht-Musikalische sowie Geräusche vom Hundegebell bis zum Kreischen beim Anblick einer Maus. Tonhöhen, Artikulationsformen, Dynamik und Gesangsstil sind frei wählbar, die Klänge entwickeln sich aus sich selbst heraus.

Schmankerl mit Tom & Jerry

Der Abend endete mit einem ganz besonderen Schmankerl: Der Komponist Joe Michaels hat im oscarprämierten Zeichentrickfilm „Cat Concerto“ die angeschlagenen Tasten und Saiten minutiös transkribiert - mitsamt der Fehler, die den Cartoonisten beim Erzählen ihres Kurzfilms unterlaufen sind. Kater Toms Konzert von Liszts Zweiter Ungarischer Rhapsodie wird von der im Klavier schlafenden und abrupt geweckten Maus Jerry beinahe erfolgreich sabotiert. Der Pianist Jürgen Kruse meisterte diese Uraufführung und Live-Herausforderung großartig, obwohl Filmgeschwindigkeit und Bild-Ton-Synchronizität ihm alles abverlangten. Das Fazit dieser gelungenen Festival-Eröffnung: Zeitgenössische Musik und der zeitgenössische Umgang mit Musik können und dürfen auch Spaß machen. Und sie bieten jede Menge Möglichkeiten, Grenzen zu überschreiten, Stile und Positionen zu mischen, Neues und Spannendes zu entdecken.

Als nächste Gäste beim TonArt-Festival bieten Emil Kuyumcuyan und Lucas Gerin mit ihren „American Affairs“ an diesem Sonntag ab 18 Uhr konzertante Schlagzeugkunst im Kulturzentrum Dieselstraße. Infos zum weiteren TonArt-Programm sind unter www.tonart-esslingen.de abrufbar.