Der Gekreuzigte (Julischka Eichel) überm „Paradise“: Bei Kay Voges wird die Passion zum Bilder-Sturm eines visuellen Overkills. Foto: JU Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - So eine Geburt ist eine schmerzhafte Sache, auch wenn man den Heiland zur Welt bringt. Also windet sich Maria unter den Presswehen, bis sich in blutbeschmiertem gynäkologischem Realismus das Köpflein zwischen ihren Schenkeln zeigt. Josef zieht das Christkind vollends ins zu erlösende Diesseits. Mit der Schere setzt er den Nabelschnur-Cut. Cut? „Cut“, ruft der Regisseur. „Super.“

Ein Filmdreh, das Projekt eines Evangelien-Updates. „Marys Baby“, sozusagen. Jesus wird in diese unsere Gegenwartswelt geboren. Nun ist es freilich nicht so, dass der Regisseur Kay Voges in geordnet zweigleisiger Linearität einen Film über Jesus in der Moderne und zugleich dessen Making-of erzählt, wie es gut zwei Stunden später die bühnenraumhohe Abspann-Projektion im Stuttgarter Schauspielhaus verkündet. Voges will mehr und anderes: die Beziehungsstrukturen des bilderproduzierenden Filmteams in eine komplexe Interaktion bringen mit dem neutestamentarischen Stoff.

Oberammergau auf Ecstasy

„Das 1. Evangelium - frei nach Matthäus“ lautet der Titel, das staatsschauspielerische Resultat ist naturgemäß kein Kirchentags-Bibliodrama, allenfalls Oberammergau auf Ecstasy. Nur interessiert sich Voges für theologische Deutungen keinen Deut. Ihm geht es um die Frage der Einbildung, der Ikonografie, des sich zu machenden Bildnisses. Text geworden ist im Matthäus-Evangelium - für Voges der Gründungsmythos des Abendlands schlechthin - eine in ihrem heilsgeschichtlichen Anspruch, ihrer gottmenschlichen Messiasgestalt ungreifbare Dimension. Wenn aber das Evangelium tatsächlich die soziokulturelle DNA unserer Welt speichert, führt Bilderlosigkeit zum Verlust des Glaubens an diese Welt (von der jenseitigen mal ganz zu schweigen). Kurzum: Voges stellt sich dieselbe Frage wie die bildende Kunst seit knapp 2000 Jahren, und er gibt dieselben Antworten. Nur eben mit gegenwärtigen Mitteln unter dem Imperativ: Du sollst dir ein Multimedia-Bildnis machen. Und dieses Evangelium verkündet nicht mehr Sankt Matthäus, sondern Sankt Castorf.

Wie beim Meister höchstselbst prasseln in simultaner Dreifaltigkeit die Live-Filmbilder aufs Publikum ein, dazu öffnet sich das visuelle Zitatenschätzlein aus Kunstgeschichte (etwa Caravaggios „Grablegung“) und Filmhistorie - bis zurück zum zerschnittenen Auge (Bilderverbot!) aus Buñuels „Chien andalou“ (Videos: Voxi Bärenklau und Robi Voigt). Voges fügt - sinnigerweise zu Bachs Matthäuspassion und h-Moll-Messe - projizierte Sequenzen zu Bildfugen, die versetzt über die Screens huschen. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Texte samt Textprojektionen mischt sich in die Polyphonie des medialen Overkills, die allenfalls der Lektüreblick ins Inszenierungsskript lichten könnte. Aber live - keine Verständnischance.

Dieses Bildnis, das sich Voges’ Theater von der labyrinthisch-ekstatischen Vielstimmigkeit medialer Inputs macht, sortiert sein Material immerhin getreu der Matthäus-Erzählung - von der Geburt bis zur Kreuzigung. Nebst der Interlinearübersetzung des Evangeliums und weiterer Bibelsprüche wird allerdings namentlich die Filmteam-Ebene ausstaffiert mit Fremdtexten von Walter Benjamin bis Gilles Deleuze, von Fellini über Goethe bis Godard, von Fassbinder bis Freud und vielen mehr: zum Zwecke der Reflexion des Bilderproduzierens, des Wortes, das im Anfang war oder auch nicht, des Bösen und seiner Strafe durch Liebesentzug.

Viel Oberseminar-Collage also, dazu eine von Michael Sieberock-Serafimowitsch ebenfalls nach Frank-Castorf-Manier bestückte Bühne: aufgebockte Autokarossen, einen Bottich (als „Jordan“ für Johannes den Täufer), dahinter die nahezu unablässig kreisende Drehbühne mit Nischen für Werke der Barmherzigkeit - Speisungen in der „Paradise“-Bar, Heilungen im Klinikbett unter verstümmeltem „Mobil-Oil“-Schriftzug (siehe Castorfs Bayreuther „Ring“), antike Säulen für das Urteil zum Kreuzesopfer und so weiter.

Stark ist Voges’ Inszenierung dann, wenn sich aus der irisierenden und irritierenden Flut der Bildbeeindruckungsmaschinerie jenes Bildnis herausschält, das es sich zu machen gilt: ein Bildnis des Menschen am Abgrund seiner Fallhöhe, gar nicht so anders wie im Evangelium vom Menschensohn.

Voges spitzt das zu in etlichen pointierenden Episoden. Etwa: Jesus liebt Judas, „verrate mich“, haucht er ihn in einer erotisch aufgeladenen Szene an. Aber Jesus ist nicht schwul, sondern eine Frau (überragend gespielt von Julischka Eichel), und die ist im Leben zum Film die Freundin des Regisseurs Fred (Paul Grill). Ein Eifersuchts-Dreier also, da der Judas-Darsteller (Manolo Bertling) zugleich ein guter Freund Freds ist. Aber Jesus muss Judas lieben, denn ohne Verrat gibt es kein Erlösungswerk am Kreuz: rollentheologisch konsequent.

Das Jesus-Prinzip

Jesus ist indes nicht nur Rolle, sondern Prinzip. Sein Double (Nurettin Kalfa) trägt das Kreuz durch die Szenen oder zuckt als Epileptiker im Klinikbett, an dem auch Julischka Eichels Jesus einmal fixiert wird: ein gefährdeter Erlöser, ob der Radikalität seiner Botschaft von Psychiatrisierung gefährdet (Evangelium-O-Text: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“). An den Kulminationspunkten - der Verführung durch den Satan, der Gottverlassenheit beim Kreuzestod - durchläuft Eichels Jesus alle Stadien der Drohung, des Eiferns, des (heiligen?) Zorns in einem ohrenbetäubenden Crescendo brüllender Verstärkerelektronik und lärmenden Hardrocks. Eine - begründete - Korrektur milder Andachtsbilder.

In stetem Wechsel zwischen Filmset- und Spielrealität lässt Voges die fürs Catering zuständige Dame (flittchenhaft: Berit Jentzsch) als Salome (natürlich mit Oscar-Wilde-Text) den begehrten Täufer-Johannes (eifernd: Peer Oscar Musinowski) erst um den Kopf bringen, dann zum Familienvater machen - sie entbindet in treuer Maria-Nachfolge gleich mehrere Babys von ihm. Maria Magdalena (Kim Vanessa Földing) teilt per öffentlichem Telefon kurz mit, dass sie „bei Jesus bleiben“ werde. Ku-Klux-Clan-Männer verwandeln sich in Besatzungsrömer, Rahel Ohms Verkündigungsengel Gabriel steht säulenstarr und in verblichenem Brautkleid neben dem Geschehen - und bei allem herbeibemühten Zitieren und Assoziieren hat schließlich auch Regisseur Fred sein Jesusprinzip-Kreuz zu tragen. Sitzt ihm und seinem Avantgarde-B-Movie doch der Produzent Hans Werner Rhodes im Nacken, der sich den eigenen Nacken schon mal vom Jesus-Double massieren lässt. Holger Stockhaus spielt den Produzenten als Macker-Karikatur aus der René-Pollesch-Retorte: mit Schnauzer und Cowboy-Schlapphut.

Damit ist die Ebene der Ironisierung des Bilder- (und Theater-)Machens angepeilt, zugleich aber auch der Ernstfall des fundamentalen Widerspruchs zwischen einem - im doppelten Wortsinn verstandenen- protestantischen Bilder-Sturm (Fred: „Warum kann man Jesus nicht mit den Augen fassen?“) und dem nassforschen Katholizismus der (Kino-)Bilder. Als dessen Vertreter schlüpft Herr Rhodes selbst in die Pilatus-Rolle, und Darsteller Stockhaus legt in Wallegewand und mit Turmhaube auf dem Haupt eine hinreißend verblödelte Improvisation hin. Mutmaßlicher Sinn: Wenn der Bilder-Tycoon sich so aufführt, sind die Bilder selbst Klamauk. Im filmischen Abspann werden sie denn auch aufgelöst zu farbfleckigen Weiß, durchsetzt mit Filmrissen. Ein Sieg des Bilderverbots, zum Teufel mit der ganzen Multimedia-Jesus-Show? Eher fromme Einsicht: Voges hat in verwirrender Fülle herangezoomt, was sie nicht sehen, nur glauben lässt. Amen.

Die nächsten Vorstellungen: 24. und 29. Januar, 2., 8. und 17. Februar, 4., 18. und 29. März.