Underground-Bohème zwischen Sehnsucht und Horror: Atalla Ayan als Faust und Mandy Fredrich als Margarethe in Frank Castorfs Gounod-Inszenierung. Foto: Thomas Aurin Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Woran lag’s? Auch in der Stuttgarter Oper und nicht nur im Staatsschauspiel bröckeln die Publikumszahlen. Zwar verzeichnet die Statistik für die vergangene Saison 2016/17 immer noch knapp 200 000 Besucher in der Musiktheatersparte, wobei die Konzerte mit eingerechnet sind. Verglichen mit 2015/16 bleibt aber trotzdem ein Minus von 7,4 Prozent und eine von 79 auf 75 Prozent gesunkene Auslastung der Vorstellungen und Konzerte.

Dabei ist man am Eckensee doch mit freundlichem Rückenwind in die Saison gestartet: erstmals in der Intendanz Jossi Wielers mit der Kritikerwahl zum „Opernhaus des Jahres 2016“, einer Auszeichnung, die zu Zeiten Klaus Zeheleins serienweise nach Stuttgart ging. Und gleich mit der ersten Neuproduktion der Spielzeit 2016/17 erwies man dem Ruhm alle Ehre: Frank Castorf nahm sich bei seinem Stuttgarter Opernregie-Debüt Charles Gounods „Faust“ vor, einen einst erfolgreichen Second-Empire-Schinken von 1859, der vielen heutigen Opernfreunden als abgelegt gilt, als sentimentalische Verbürgerlichung des großen Stoffs. Nun, in Stuttgart hat Dirigent Marc Soustrot den Weichzeichner aus der Melodik genommen, Klänge gelüftet und Farben gelichtet, die Frische unter der Patina wiederentdeckt, aber auch den Zuckerguss dort belassen, wo ihn der Komponist haben wollte. Und die Sangestöne traf eine - durchweg auch exzellent spielende - Spitzenbesetzung: Atalla Ayan als Tenor-Faust von noblem Schmelz und lyrischer Geschmeidigkeit, Bassist Adam Palka als wendiger, scharf konturierender Mephisto, Sopranistin Mandy Fredrich als emphatische Sehnsuchts-Margarethe zwischen Kleinbürgertum und Halbwelt.

Alter Schinken, neu gepökelt

Ja, Castorf und sein Bühnenbildner Aleksandar Denić haben den alten Schinken gründlich neu gepökelt, wild, aber keineswegs wirr assoziierend von der Pariser Underground-Bohème um die symbolträchtige Metrostation Stalingrad bis zum Algerienkrieg und zum heutigen Flüchtlingselend: Bilder einer Gesellschaft zwischen Trance und Tristesse, einer Geschichte zwischen Grauen und Gewalt. Das Ganze am Stück, Castorf-mäßig mit heftigem Video-Einsatz von der Live-Vergrößerung bis zur historischen Gräuel-Dokumentation, knüpft ein endlos geflochtenes Band der Bedeutsamkeiten, präzis, brisant und irritierend. Und das wollte sich das Publikum nicht entgehen lassen: Die Leute rannten der Oper die Bude ein, nahezu jede Vorstellung war ausverkauft.

An Castorf lag der Besucherschwund also nicht. Eher käme - zumindest nach künstlerischen Gesichtspunkten - die Second-Empire-Nummer zwei in Frage, das Satyrspiel mit Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“. Schauspielintendant Armin Petras hat sich an der Regie versucht, ließ aber der Opernsatire weniger Lust als Langeweile, mehr unscharfe Bedeutungshuberei als szenischen Witz angedeihen. Immerhin prickelte es im Orchestergraben bei Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling einigermaßen beschwingt.

Dem Flop folgten indes drei weitere Regie-Großtaten, die künstlerisch gesteigertes Besucherinteresse verdient hätten - vielleicht lag der Rückgang ja an den Repertoire-Vorstellungen. Intendant Wieler hat im gewohnten Regie-Gespann mit Sergio Morabito Händels „Ariodante“ als Theater-Gleichnis mit Gender-Mehrwert analysiert. Und zwar so: Die typische Opera-Seria-Intrige wird nicht nur gegen das einträchtige Liebespaar der Handlung geschürzt, sondern gegen die Oper selbst, ja das Theater überhaupt.

Mit herbeizitierten Worten Jean-Jacques Rousseaus - der Freiheitsdenker konnte auch ein fürchterlicher Spießer sein - wettert Opernintrigant Polinesso gegen Subversion und Sittenverderbnis durchs theatralische Spiel. Wieler und Morabito ziehen das Theaterhass-Pamphlet als Kontrastfolie in die Händel-Oper und in deren Freiraum kostüm- und geschlechtswechselnder Rollenspiele. Wie daraus eine geschlossene Anstalt verordneter Identitätszwänge wird, ist so klug, bedenkenswert und szenisch eindringlich fokussiert, dass im barocken Stück heutige Gender-Debatten und rechtspopulistische Ränke aufscheinen: ein sinnliches wie intellektuelles Vergegenwärtigungswunder. Zumal überzeugend musiziert wird: vom Staatsorchester in Giuliano Carellas Leitung mit größtmöglicher Authentizität auf modernem Instrumentarium, zumindest vom weiblichen Teil des Ensembles - Diana Haller in der Titel-Hosenrolle, Ana Durlovski als Ginevra, Josefin Feiler als Dalinda - mit beachtlichem stilistischen und technischen Vermögen.

Dann Brittens „Tod in Venedig“ nach Thomas Mann, von Demis Volpi, dem geschassten Hauschoreografen des Stuttgarter Balletts, inszeniert: hochmusikalisch, detailverliebt, symbol- und bildstark, spannend. Und mit der Pointe, dass alles Geschehen - Venedig, die homoerotische Neigung zum Knaben Tadzio, der Tod selbst - im Kopf des Schriftstellers Aschenbach (grandios: Matthias Klink) spielen könnte, als Projektion, Abspaltung, Parallelexistenzen der eigenen Persönlichkeit. Volpis raffinierte Kunst der Figurenspiegelung mündet in eine vollkommene Synthese von Oper und Tanz, Dirigent Kirill Karabits folgt ingeniös Brittens fragmentierter Klangsprache und fügt sie zu staunenswerter Organik.

Bezwingend und beklemmend

Wielers und Morabitos zweiter Saison-Streich galt Tschaikowskys „Pique Dame“, dirigiert von dem früheren Tschaikowsky-Verächter und spätberufenen -Verehrer Cambreling. Er hat ordentlich Fett abgelassen aus der Partitur, die über weite Strecken unversülzt aus dem Graben tönt, ohne das emotionale Furioso zu kappen. Das Regie-Duo zeigt in den St. Petersburger Desillusionsfassaden der Bühnenbildner Anna Viebrock den Puschkin-Stoff als Psychothriller der Traumatisierten und Verrohten, als Außenseiter-Tragödie des Hasardeurs German (den Erin Caves besser spielt als singt) in einem in jeder Hinsicht prekären Gesellschaftszustand. Eine starke, bezwingende und beklemmende Regie-Arbeit, zumindest in drei Rollen mit Helene Schneiderman, Vladislav Sulimsky und Stine Marie Fischer hervorragend besetzt.

Eine insgesamt starke Saison also, wahrlich keine vorgezogene Ehrenrunde in Abschiedsschlaffheit. Und auch wenn Jossi Wielers Abschied - er nimmt ihn nach der kommenden Spielzeit - naht: von Schlaffheit keine Spur. Der scheidende Intendant pokert zum Finale noch einmal hoch: unter anderem mit Kirill Serebrennikovs „Hänsel und Gretel“-Inszenierung und ganz am Ende mit der selbstinszenierten Uraufführung von Toshio Hosokawas „Erdbeben.Träume“ auf ein Libretto Marcel Beyers nach Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“.

In einer kleinen Serie ziehen wir eine Bilanz der vergangenen Spielzeit an den großen Bühnen der Region.