Quelle: Unbekannt

Zwischen innerer Distanz und heimlicher Nähe gedieh ein literarisch inniges Verhältnis zu Land und Leuten.

Von Thomas Krazeisen

Nürtingen - Heimat sei, befand der am Montag verstorbene Peter Härtling einmal, „ein vertracktes Thema“. Er wusste, wovon er sprach. 1933 in Chemnitz geboren, 1941 mit seiner Familie nach Mähren übergesiedelt und vor der Roten Armee geflohen, kam er zusammen mit seiner Mutter, Schwester, Großmutter und einer Tante 1946 in Nürtingen an. Hier fand die Flüchtlingsfamilie nach einer Odyssee mit etlichen Zwischenstationen endlich eine neue Heimat. Freilich eine, in der sie sich - das Thema Willkommenskultur war damals nicht anders als heute ein schwieriges - nicht wirklich heimisch fühlen konnte.

In Güterwaggons war der Flüchtlingstreck wochenlang unterwegs gewesen. Ein Lager aus Stroh diente als mobile Unterkunft. Im Gepäck die schier unerträgliche Last der Erinnerung, an der Härtling ein Leben lang schwer zu tragen hatte und die er vor allem auch literarisch aufzuarbeiten und so zu verarbeiten suchte. Unter jenen Bildern, die sich für immer ins Leben und Schaffen des Schriftstellers einbrennen sollten, war der Suizid der Mutter das wohl traumatischste Ereignis. Sie war noch vor der Flucht von einem sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden und nahm sich in Nürtingen nach wenigen Monaten mit einer Überdosis Tabletten das Leben. Dort hatte die Familie auch vom Tod des Vaters erfahren - der Rechtsanwalt, der sich dem Zugriff der Nationalsozialisten durch den Wegzug nach Mähren zu entziehen versucht hatte, war bereits 1945 in russischer Gefangenschaft gestorben.

Tod, Not, Trauer und Verlust wurden so schon früh zu prägenden Erfahrungen des jungen Peter Härtling, der nach dem Tod der Mutter gemeinsam mit seiner jüngeren Schwester bei Verwandten zurückblieb. Vor allem das furchtbare Ende der Mutter blieb eine biographische Leerstelle, in der sich dumpfer Schmerz festsetzte. Er wurde brennend, als Anfang der 1950er-Jahre der Alte Friedhof in Nürtingen aufgegeben wurde und das Grab der Mutter schließlich nicht mehr aufzufinden war.

Rund drei Jahrzehnte später entstand das Gedicht „Der Alte Friedhof in Nürtingen“. „Als Kind bin ich die Wege oft gegangen“, heißt es dort, „lernte die Toten beim Namen (…). Dann zog ich fort. Der Fliederbaum verschwand. Der Friedhof werde, heißt es, nun planiert (…); so viele Jahre, meinen die Planeure, hält die Trauer nicht“.

Doch sie hielt an - und Härtling verlieh ihr berührende Verse. Nachdem er wieder einmal in „sein“ Nürtingen zurückgekehrt war, entstand das Gedicht mit dem schlichten Titel „Meine Mutter“. „Drei Tage lang starb meine Mutter“ beginnt dieser ungeschönte Blick in eine noch immer aufgewühlte, unruhige Seele. „Keinen Brief schrieb sie; keinen Zettel (...)“, heißt es da klagend, aber ohne Anklage. „Sie ließ uns unbegründet ganz einfach zurück“, bemerkt Härtling dazu in seinem großen - auch Nürtinger - Erinnerungsbuch „Leben lernen“.

Abermals zogen viele Jahre ins Land, ehe sich der Nürtinger Hölderlin-Verein vor einigen Jahren daran machte, die alte Grabstelle zu suchen und dem Vergessen zu entreißen. Es gelang tatsächlich, und so blüht dort heute nicht nur wieder ein kleiner Fliederbaum. Auf einem Gedenkstein ist just jenes Nürtinger Friedhofsgedicht Peter Härtlings zu lesen. An diesem wiederbelebten Erinnerungsort soll, wie auf einem kleinen Stein davor steht, neben Erika Härtling auch der „ungezählten Flüchtlingsfrauen zweier Jahrhunderte“ gedacht werden.

Man darf wohl vermuten, dass es für Peter Härtling ein ganz besonderer, ein befreiender Erinnerungsaugenblick war, als er nach Jahrzehnten der Ungewissheit nun vor wenigen Wochen endlich an das wiedergefundene Grab seiner Mutter zurückkehren konnte. Es sollte, wie wir jetzt wissen, zugleich sein letzter Besuch in Nürtingen werden - in jener Stadt und Region vor der Schwäbischen Alb, die sein Leben und damit sein Werk, das dort eine seiner produktivsten Quelle fand, prägen sollten.

Die Hölderlin-Stadt blieb für den Poeten, den Romancier und nicht zuletzt den Nürtinger Ehrenbürger und Hölderlin-Ring-Träger Härtling, kurz: für den Wanderer zwischen vorfindlichen und erinnerten, ersehnten, erhofften und erträumten Wirklichkeiten in privatem wie künstlerischem Betracht Bezugs- und Anziehungspunkt, auch nachdem er von ihr fortgezogen war. „Es ist meine Stadt“, lautet in der Rückschau Härtlings lakonische Liebeserklärung in dem autobiographischen Roman „Herzwand“. Und dieses Nürtingen, das er schmähte und zugleich liebte und in dem er seine spätere Frau Mechthild, die Liebe seines Lebens, fand: Es blieb seine Stadt. Es war freilich von Anfang an eine alles andere als harmlos harmonische und widerspruchslose, vielmehr eine spannungsreiche, aber eben - wie im echten Leben - in aller produktiven Differenz doch eine intensive, tiefe Beziehung zwischen dem unbequemen, weil unbestechlichen Chronisten vor allem auch des beklemmenden Beschweigens der Barbarei in der Nachkriegszeit und „seiner“ Heimatstadt Nürtingen. Jener Stadt, in der die Bewohner dem kleinen Knirps Peter als Flüchtlingskind wie allen „Reingeschmeckten“ anfangs überwiegend mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier begegnet waren. Ein Lehrer am örtlichen Gymnasium, offenbar ein Alt-Nazi, drangsalierte den Neu-Nürtinger. Von heute auf morgen verließ der Gymnasiast Härtling die Schule.

In dieser Ambivalenz zwischen innerer Distanz und heimlicher Nähe, ja zarter Zuneigung eines Außenseiters zu der ihm zugefallenen Heimat gedieh dann ein auch literarisch inniges Verhältnis zu Land und Leuten, deren Anerkennung - und das erforderte auch: deren Dialekt - sich der Habenichts erkämpfen musste.

Vor allem tat sich hinter der mitunter kalten und schroffen „Menschenlandschaft“ der Argwöhnischen, Zugeknöpften und Unbelehrbaren, aus der Pfarrer Martin Lörcher, der Lehrer Erich Rall und vor allem der Mentor der Halbwaise, der Maler Fritz Ruoff (1906-1986), und seine Frau Hildegard mit menschlicher Wärme herausragten, ja noch die reale Alblandschaft hervor. Diese wurde dem jungen Literaten, der 1952 bei der „Nürtinger Zeitung“ volontiert und im Jahr darauf beim Esslinger Bechtle-Verlag seinen ersten Gedichtband - „poeme und songs“ - herausgebracht hatte, ähnlich wie bei Kerner, Mörike oder auch bei seinem Esslinger Dichterkollegen Helmut Heißenbüttel, über ihre reale Schön- und Erhabenheit hinaus zu einer existenziellen Metapher - zur „Urschrift meiner Landschaft“, wie Härtling in seinem „Heimat“-Essay schreibt.

Ihre Signatur ist Vergänglichkeit, aber auch allerneuernde Ursprünglichkeit. „Nimm Abschied!“, gibt Peter Härtling im Theaterstück „Melchinger Winterreise“ durch den Engel der Geschichte seinem jungen Alter ego in Nürtingen mit auf den Weg. Nur so, im Fortgehen, würde er spüren, was Fremde ist, aber auch, was Heimat bedeuten könnte: nämlich die Erfahrung mit der beglückenden ursprünglichen Erfahrung, also den Anfang nie aufzugeben.