Im Faltenwurf der Vergangenheit: Vesna Pavlovićs „Fabrics of Socialism“ projizieren Bilder aus dem Privatarchiv des jugoslawischen Staatsgründers Josip Broz Tito (Zweiter von links) auf einen Vorhang. Foto: Vesna Pavlović Quelle: Unbekannt

Von Dietrich Heißenbüttel

Stuttgart - „Jeder hat eine Chance“, verkündete 1961 eine Broschüre des Bundesinnenministeriums. „Hat jeder eine Chance?“ fragte eine Publikation im folgenden Jahr zurück. Die Gefahr eines Atomkriegs war nie so real wie zu dieser Zeit. Wenn schon nicht jeder, wollten wenigstens die Eliten dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs ihr Überleben sichern. Der Regierungsbunker bei Bonn wurde am Ende schneller fertig als der des jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito, der 1980, nur ein Jahr nach der Fertigstellung, starb. Jugoslawien zerfiel in inneren Kriegen, erst danach wurde die 6500 Quadratmeter große Anlage bekannt, die Tito in Konjic, 40 Kilometer von Sarajewo entfernt, in den Berg hatte graben lassen. 2011 machten Edo und Sandra Hozic den Bunker zum Ort einer Kunstbiennale, die derzeit zum vierten Mal stattfindet: kuratiert von Hans D. Christ und Iris Dressler, den Leitern des Württembergischen Kunstvereins (WKV) in Stuttgart.

„Die Zukunft gehört uns“

Zum Konzept dieser Biennale gehört, dass sich die eingeladenen Künstler mit dem Ort beschäftigen und ihre Arbeiten Teil einer wachsenden Sammlung werden. Dressler und Christ haben sechs Künstlerinnen und Künstler eingeladen, die regelmäßigen Besuchern des WKV nicht unbekannt sind. Wer etwa die Stuttgarter Einzelausstellung von Jorge Ribalta gesehen hat, weiß, dass dieser mit Serien analoger Schwarzweißfotografien arbeitet: eine Herangehensweise, die zur Entschleunigung einlädt und dazu, näher hinzusehen. Ribalta hat die kritischen Punkte in den Blick genommen, wo der Bunker Luft und Wasser von der Außenwelt erhält. Für die Stuttgarter Ausstellung hat er drei weitere Serien über die Vorbereitung, Eröffnung und Vermarktung der Biennale hinzugefügt. Einmal ist im Hintergrund eine Moschee zu sehen. „Visit Konjic“, steht auf einem T-Shirt und auf einem Leuchtschirm „The future belongs to us“ („Die Zukunft gehört uns“). Eine London Business School ist angereist: Das Publikum im Tito-Bunker ist international.

Annalisa Cannito geht aus vom Bild einer Plakatwand an einem US-Atomwaffentestgelände des Zweiten Weltkriegs. „Don’t talk!“, steht da, „Silence means security.“ („Nicht sprechen! Schweigen bedeutet Sicherheit“). Cannito fragt sich, was dies für die Beschäftigten bedeutete, die vermutlich einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt waren und doch Stillschweigen bewahren mussten. Jan-Peter E. R. Sonntag hat eine Briefmarke mit dem Porträt Titos aufgestöbert, die 1982 im Irak gedruckt wurde: anlässlich einer Konferenz der blockfreien Staaten, die dann gar nicht stattfand. In Jan Peter Hammers Video über Bulgarien purzeln die Zeitebenen durcheinander: Zwischen den Ruinen eines verlassenen Raumfahrtzentrums wühlen Schatzsucher nach antiken Fundstücken. Ein Archäologe, der 1977 eine 6500 Jahre alte Siedlung ausgegraben hat, glaubt, dabei ein Objekt von Außerirdischen gefunden zu haben.

Dan Perjovschi konfrontiert Postkarten mit dem geschwärzten Bild des Regierungspalasts Nicolae Ceausescus in Bukarest mit Zeitungsausschnitten zum „Horror-Beben“ und der Reaktorkatastrophe in Fukushima. Lia Perjovschi meint, sie würde lieber unter blauem Himmel sterben als in einem Bunker dahinzuvegetieren: „Your utopia is my dystopia“, steht auf einer ihrer Mindmaps.

Freilich gibt es in Stuttgart viel mehr zu sehen als in Konjic, wo das Budget begrenzt war. Das Thema, sagt Dressler, erlaubt, viele Bögen zu schlagen: zu menschengemachten Katastrophen etwa oder zur Fiktion der Beherrschbarkeit. Rund 15 zusätzliche Arbeiten sind in der Stuttgarter Ausstellung vertreten. Einige kreisen um die Geschichte des untergegangenen Ostblocks. Sandra Vitaljić zeigt in schönen Farbfotos Orte vergangener Katastrophen: vom Konzentrationslager Jasenovac, das während des Zweiten Weltkriegs vom kroatischen Regime betrieben wurde, bis zu einer abgebrannten Waldhütte, in der eine serbische Familie 1991 hingerichtet wurde.

Monument des Personenkults

Vesna Pavlović hat in einem Archiv zum Leben Titos unter Zehntausenden von Fotos sich selbst als neunjähriges Mädchen entdeckt. Eine Auswahl der Bilder wird von der Künstlerin auf einen Vorhang projiziert, das Private fügt sich dadurch ein in die Monumentalität der sozialistischen Ästhetik und ihres Personenkults. Doch weil nach dem Tod des Diktators sein Reich alsbald im Bürgerkrieg unterging, signalisiert der Faltenwurf des Vorhangs auch die Vergänglichkeit selbsternannter ewiger Größe. Von ihr bleibt in der Projektion nur ein schemenhaftes Abbild, der momenthaften Spiegelung auf einer Wasseroberfläche gleichend.

Alexander Sokurov dokumentiert in einem fast sechsstündigen Video das Leben russischer Soldaten in Afghanistan. Milomir Kovačević hat in Paris ehemalige Bewohner Sarajewos gebeten, ihm ein Objekt vorzulegen, das sie mit ihrer Heimatstadt verbindet, und mit Bleistift einen Kommentar unter die Aufnahme zu schreiben. Ein Akkordeon ist dabei; ein Autoschlüssel. Eine junge Frau gab dem Künstler Schühchen, in denen sie als dreijähriges Kind Sarajewo verlassen hat. Unter einem Foto steht: „Neda bei der Einweihung unseres neuen Balkons. Der Balkon ist nicht mehr. Neda ist nicht mehr.“

Andere Arbeiten richten den Blick nach Westen, angefangen mit der Grafikserie „Cloud Atomic Laboratory“ des Pop-Art-Pioniers Eduardo Paolozzi. Eine Diaserie von Dorit Margreiter untersucht den gescheiterten amerikanischen Versuch, eine von der Außenwelt abgekapselte Biosphäre einzurichten. Gleich daneben zeigt Bernd Behr den Ursprungsort der Sars-Epidemie, eine verlassene Wohnsiedlung in Hongkong, und konfrontiert diese mit einem Zitat Le Corbusiers von einer klinisch reinen, „exakten Luft“. Susanne Kriemann macht Radioaktivität fotografisch sichtbar. James T. Hong dokumentiert das Leiden eines chinesischen Bauern, der seit einem japanischen Biowaffenangriff im Zweiten Weltkrieg offene Wunden an den Füßen hat. David Brognon und Stéphanie Rollin nehmen Hände von Statuen in den Blick, aus deren Handlinien sich kein Schicksal mehr herauslesen lässt.

Wer sich Ende April bei der Wiedereröffnung des Kunstgebäudes über den etwas verworrenen Vortrag von Hilary Koob-Sassen gewundert hat: Sein Musikvideo, das nun in der Ausstellung zu sehen ist, hat zwar mit dem Thema nur weitläufig zu tun, entfaltet aber einen unglaublichen Sog. Cellotöne korrespondieren mit einem Kontrabass, mit dem Jan-Peter E. R. Sonntag am anderen Ende des Saals den Bunker von Konjic erkundet hat. Dafür muss man eine Wendeltreppe hinabsteigen. Allerdings wird es dort auf dem Video in regelmäßigen Abständen richtig laut, wenn nämlich die Lüftungsanlage des Bunkers anspringt.

Bis 6. August. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr.