Aus der Sicht von Abdennour Bidar muss sich die muslimische Welt aus ihrer eigenen Unmündigkeit befreien. Foto: Robin Rudel Quelle: Unbekannt

Von Maria Krell

Stuttgart - Abdennour Bidar ist ein kleiner Mann von großem Geist. In blauem Hemd und beigefarbener Stoffhose steht er vor dem Rednerpult im Stuttgarter Hospitalhof und liest in sanftem Ton aus seinem „Offenen Brief an die muslimische Welt“ vor. Zwischen wichtigen Worten macht er kleine Pausen, betont sie besonders, manchmal wiederholt er sie. Es klingt, als würde er einen Liebesbrief rezitieren. Doch die Zeilen haben es in sich, erreichten allein in Frankreich über drei Millionen Leser und fordern nichts weniger als einen selbstkritischen Umgang aller Muslime mit dem Islam. Angesichts von Terror, Dschihadisten und dem weltweiten Aufschrei von Muslimen, die sich gegen die Gleichsetzung von islamistischer Barbarei mit ihrer Religion wehren, fordert der französische islamische Philosoph eine reflektierte Grundsatzdiskussion. Bidars brisanter Punkt: Die Wurzeln des Übels, des sogenannten Islamischen Staates und anderer islamistischer Terrorgruppen, lägen im Islam selbst.

„Verleugnetes Geheimnis“

Seinen Vortrag beginnt er mit den Worten: „Mein lieber Islam, du gründest das ganze Gebäude deiner Dogmen und Gesetze, dein ganzes religiöses Universum auf ein verleugnetes Geheimnis.“ Was dieses Geheimnis ist, verrät er wenig später: „Es ist die Offenbarung des Korans, die den Menschen zum Kalifen Gottes auf Erden macht. Du, Islam, hast diese bedeutsame Aussage beständig heruntergespielt und verdunkelt.“

In diesen wenigen Worten zeigt Bidar bereits die Stoßrichtung seines Denkens: einen humanistisch geprägten Islam. Der Mensch als schöpferisches Ebenbild Gottes steht im Mittelpunkt. Auf die Frage, warum er den Islam für das in seinem Namen begangene Unrecht verantwortlich macht, antwortet Bidar: „Solange der Mensch als Sklave Gottes angesehen wird, gibt es keinen Fortschritt. Ich bin sehr kritisch in meinem Offenen Brief. Ich glaube aber, dass ich dafür dem Islam einen besseren Dienst erweise als jene, die ihn immer nur verteidigen. Denn sie verschieben nur den Moment des Mutes.“ Dieser Mut liege darin, in den Spiegel zu schauen, selbst Verantwortung zu übernehmen, auch für die Freiheit des Menschen. Und weiter: „Der Mensch als Gottes Kalif ist buchstäblich Gottes Erbe und Nachfolger! Derjenige, dem Allah - der höchste Name, den du Gott gibst -, sobald er eines Tages dessen würdig sein wird, das Erbe über der Schöpfungshoheit über das Universum anvertrauen wird. Der Koran sagt uns, dass der Mensch dazu berufen ist, zu wachsen, bis er selbst zum Schöpfer wird.“ Bidar verweist damit auch auf den großen humanistischen Denker der Renaissance, Giovanni Pico della Mirandola: „Er glaubte, die große Wahrheit der Menschheit bei den muslimischen Sarazenen gefunden zu haben.“ In seiner Rede „Über die Würde des Menschen“ hatte Pico dem Menschen bereits Freiheit und Schöpfertum zugeschrieben. Bidar beruft sich aber nicht nur auf den großen italienischen Humanisten. Er zitiert auch Kant, Spinoza und andere Denker.

Die Verantwortung, frei zu sein

Das Denken in verschiedenen Perspektiven, in unterschiedlichen philosophischen und spirituellen Traditionen spiegelt Bidars facettenreiche Persönlichkeit: Er arbeitet, lebt und denkt als Philosoph, Essayist, Humanist, Moslem, Spiritueller, Franzose, Intellektueller. Er schreibt neben Büchern auch für die französischen Zeitungen „Le Monde“, „Libération“ oder „Philosophie Magazine“.

Doch es ist nicht nur das Göttliche im Menschen, das Bidars Denken zu erfassen sucht. Ein weiteres Schlagwort taucht immer wieder in seinem Offenen Brief und in seinem Stuttgarter Vortrag auf: spirituelle Freiheit. „Jeder Mensch trägt die umfassende Verantwortung in sich, frei zu sein.“ Freie Menschen, die nach ihrem Gewissen und Wissen agierten, seien im Koran ausdrücklich vorgesehen. Nur: Wie soll diese Befreiung erreicht werden? „Durch Erziehung und Bildung. Es ist wichtig, unseren Kindern Selbstvertrauen zu vermitteln. Nur so lernen sie, selber Fragen zu stellen, diese spirituelle Freiheit auch anzunehmen. Statt zu fragen ,Was fordern die Tradition oder der Imam?‘ müssen wir uns fragen: ,Was brauchen wir?‘“ Viele religiöse Erzieher hätten anderes im Sinn, als dem Menschen diese Freiheit zu geben. Für den Philosophen ist sie aber notwendig auf dem Weg zur menschlichen Autonomie und Mündigkeit.

Bidar sagt, er habe selbst diese Erfahrung als kleiner Junge gemacht, als er den muslimischen Gebetszyklus absolvierte. Religiös erzogen, folgte er den Vorgaben von Familie und Tradition. Er merkte, dass Regeln und Rituale erst dann Bedeutung gewinnen, wenn die eigene spirituelle Freiheit beteiligt ist. „Sie ist für mich so etwas wie ein innerer Drang, ein innerer Kompass.“ Abdennour Bidar ruft dazu auf, diesem Kompass zu folgen und Vertrauen in die eigene Freiheit zu haben.