Das Frauen-Bild im modernen Ballett: selbstbewusst und cool. Hier Tänzerinnen des Stuttgarter Balletts in Jirí Kyliáns „Falling Angels“. Foto: Stuttgarter Ballett Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Metoo im Ballett: Nach Dirigent James Levine in der Metropolitan Opera hat es direkt nebenan auch den langjährigen Chef des New York City Ballet erwischt. Peter Martins, Nachfolger des legendären George Balanchine in der Leitung der uramerikanischen Kompanie, ist wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung vorläufig suspendiert. Beim American Ballet Theater ist Marcelo Gomes, unumstrittener Superstar des Kompanie, von heute auf morgen zurückgetreten, wegen lange zurückliegender Vorwürfe der Belästigung.

Enges Abhängigkeitsverhältnis

Die Zaren hielten sich Ballerinen als Geliebte, der Ballets-Russes-Chef Sergej Diaghilew nahm sich Nijinsky als Lover, Balanchine heiratete reihenweise seine tanzenden Musen: Natürlich existiert auch heute noch im Ballett ein Abhängigkeitsverhältnis, genau wie in den übrigen Theatersparten oder beim Film. Tänzer sind gehorsame Menschen, weil sie ihre gesamte Laufbahn lang auf Perfektionierung durch Korrekturen angewiesen sind. Es ist ein wesentlich engeres Abhängigkeitsverhältnis als im Schauspiel oder in der Oper. Direktoren oder Ballettmeister sind Menschen mit scharfem Auge und unendlichem Wissen, normalerweise genießen sie Hochachtung und Verehrung. Aber Tänzer, die tagtäglich hauteng miteinander umgehen, wissen auch sehr genau, ob eine Hand an diese Stelle gehört und wie lange sie da liegen muss. Die Grenzen sind bei allem Körperkontakt streng definiert.

Eine andere Art von Sexismus-Debatte brodelt schon länger in der amerikanischen und englischen Tanzkritik. Da geht es erstens um die viel zu geringe Anzahl weiblicher Choreografen. Dann, anlässlich eines dumm zusammengestellten Abends beim Londoner Royal Ballet, um eine zu häufige Darstellung der Frau als Opfer von Gewalt, und außerdem noch darum, dass die Frauen ihre Beine breit machen - dass sie mit den überdehnten Spagaten des modernen Balletts jenen Bereich zu offensiv ins Bild rücken, der im klassischen Ballett schamvoll mit einem Rüschenhöschen unter dem Tutu verdeckt war.

Das Manipulieren von Frauen ist hier ganz körperlich gemeint: Seit William Forsythe das klassische Ballett dekonstruiert hat, ist sein athletischer Stil zum alltäglichen Idiom der nicht ganz so innovativen Kollegen geworden. Was damals in den 1980er-Jahren eine revolutionäre Ästhetik des bewegten Körpers war, wird heutzutage oft genug zum Selbstzweck eingesetzt - Ballerinen werfen die Beine hinters Ohr und überdehnen sich mit Hilfe ihrer Partner aus purer Effekthascherei. Die 180-Grad-Arabesque gehört eigentlich nicht zur feinen russischen Linie, dort wird das Bein nur auf 150 oder 160 Grad gehoben; „Man zeigt dem Zaren nicht das Höschen“, wird der russische Choreograf Alexei Ratmansky zitiert. Aber natürlich beweisen die Tänzerinnen allzu gerne, was sie können, und so hauen seit der französischen Wunderballerina Sylvie Guillem sämtliche Damen ihre Beine im Six O’Clock-Split nach oben, wie die Pose im Englischen heißt.

Scheitelpunkt gespreizter Beine

Die Frage ist nur, ob man den Scheitelpunkt der spagatgespreizten Beine wirklich ständig dem Publikum entgegenrecken muss. Weil Choreografen wie der Brite Wayne McGregor die Splits einfach zu oft einsetzen, schlug eine indignierte englische Kritikerin sogar vor, den Zwickel am Trikot für Werbung zu vermieten. Stuttgarts Hauschoreograf Marco Goecke sagt, er finde die gespreizten Beine ästhetisch furchtbar, er zeigt aber dafür manchmal nackte Busen - auch das gibt es im Ballett öfters als man denkt, etwa im schönen Jirí-Kylián-Klassiker „Bella Figura“. Ist das nun Kunst, so wie Aktmalerei, oder muss das weg?

Gleichberechtigung ist im klassischen Ballett schlichtweg nicht möglich: Die Frau steht auf Spitze, der Mann ist für Hebungen zuständig. Der weibliche und der männliche Körper sind anders gebaut, das ist sozusagen die Grundlage dieser extrem kodifizierten Kunstsparte. Im zeitgenössischen Tanz allerdings bleibt von der Geschlechterspezifizierung kaum etwas übrig. Die Technik des Erhebens auf die Zehenspitzen bedingte die frühen Märchenhandlungen, so kam es zu all den Luftwesen und davonflatternden Sylphiden. Obwohl die kreierenden Künstler, die Ballettmeister und Choreografen, ausschließlich Männer waren, regierten auf der Bühne bis weit ins 20. Jahrhundert hinein allein die Frauen. Der männliche Tänzer ging ein paar Schritte und war die Stütze beim Pas de deux, daher auch das verweichlichte, effeminierte Klischeebild des Ballerinos.

Erst Ausnahmetänzer wie Vaslaw Nijinsky oder Rudolf Nurejew, erst Choreografen wie John Cranko und Maurice Béjart maßen den Männern größere Rollen zu. Noch beim revolutionären Neoklassiker George Balanchine gilt mit seinem schönen Ausspruch „Ballet is woman“ in erstaunlichem Maße die traditionelle Rollenverteilung: sie Star, er Träger. Erst der Modern Dance brachte die Revolution: Isadora Duncan, Gret Palucca, Martha Graham, Mary Wigman befreiten den Tanz von Spitzenschuhen und Klischees, nun waren Frauen die Interpretinnen ihrer eigenen Werke.

Im modernen Ballett herrscht in etwa Gleichberechtigung, aber noch immer zählt jede große Ballettkompanie mehr Frauen als Männer. Unser Klischeebild des Balletts zeigt nie Männer in Strumpfhosen, sondern immer Schwäne im Tutu: Das Ballett bleibt eine weibliche Kunst. Dennoch ist bis heute die weite Mehrzahl der Choreografen männlich, auch wenn sich das langsam ändert.

„Angst vor dem Ausprobieren“

Unterdrückt werden kreative Tanzschöpferinnen ganz bestimmt nicht: Ballettdirektoren sind dankbar für jede neue choreografische Handschrift, allzu viele gibt es nämlich nicht. Derzeit ist es sogar Mode, rein weiblich bestückte Ballettabende zusammenzustellen, auch Gauthier Dance im Stuttgarter Theaterhaus arbeitet daran. Die Stuttgarter Choreografin Katarzyna Kozielska führt den alltäglich geforderten Perfektionismus ihrer tanzenden Kolleginnen als Hinderungsgrund für selbst choreografierte Stücke an, „die Angst vor dem Ausprobieren, die Angst vor dem Nicht-gut-Sein“. Vielleicht gilt es, daran zu arbeiten.