Feinsinnige Klangkommentare: Dirigent Hans-Christoph Rademann und Flötist Georges Barthel. Foto: Holger Schneider Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Da reden sich Musikologen und Musikvermittler den Mund fusselig über die Aktualität der Kantaten Johann Sebastian Bachs. Und dann das: Elegant schwingt sich der exzellente Flötist Georges Barthel durch muntere Girlanden, die Streicher federn in tänzerischer Rhythmik, der Bass Krešimir Stražanac singt dazu in beweglicher Komödiantik von nichts anderem als - dem Tod: als rufe er das Publikum zur heiteren Polonaise mit dem Knochenmann (tatsächlich ist das A-Dur-Arientänzchen eine Gigue). Bach verwandelt den Tod in einen gepuderten Rokoko-Beau, fern moribunder Mystik und melancholischen Unwohlbehagens: ein Tod à la Mode, weder unheimlich noch fremd. Nichts liegt uns radikal diesseitigen Zeitgenossen ferner als dieser Rollenwechsel, den Bach hier auf die Spitze barock-theologischer Dialektik treibt: Der Tod ist der Ruf Jesu ins wahre Leben, das Leben nur tödliche Vergänglichkeit. Nicht die Aktualität, sondern die Inaktualität Bachs ist es also, die uns zu provozieren und damit bis ins Mark unserer Existenzgewissheit zu erschüttern vermag. So zu erleben in der Stiftskirche mit der grandiosen Gaechinger Cantorey in Hans-Christoph Rademanns Leitung.

In der Kantate „Liebster Gott, wenn werd ich sterben?“, aus der besagte Arie stammt, imitiert die Flöte im Eingangssatz das plötzlich verstummende Totenglöcklein, worauf der Choralchor die Titelfrage nach dem eigenen letzten Stündlein stellt - in überirdisch leuchtendem E-Dur und mit jener luzid-klangvollen Intensität, die Rademann und seinem vor einem Jahr neu formierten Ensemble mittlerweile zu Gebote steht. Auch in der fugierten Eröffnung der Kantate „Erforsche mich, Gott“ verbindet die Cantorey großartige Transparenz mit homogener Fülle, und die gloriosen Instrumentalisten glänzen dazu mit gestalterischer Verve in ihren konzertanten Parts. Tenor James Gilchrist mimt sodann den eifernden Drohprediger - ein Exempel sakraler Dramatik, fremd für heutige Gemeindeschäfchen, aber umso eindringlicher als authentische Klangrede. Die Altistin Wiebke Lehmkuhl, die in der Sterbenskantate auch anders, mütterlicher tönen kann, kündigt hier mit gebührend strengem, fast virilem Timbre das jüngste Gericht an, tröstend umspielt von Antoine Toruncziks wunderbar schattierendem Oboe d‘amore-Solo. Mit solch feinsinnig kontrastierenden Klangkommentaren treffen die Interpreten ins Zentrum von Bachs Gott und die Welt musikalisch deutender Kunst.