Das Ensemble: in der Mitte im rosa Kleid Galina Freund als Anne Frank. Foto: Patrick Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Es ist der Beginn eines zweijährigen Wegtauchens aus dem Leben, um das Leben zu retten. Man verzichtet auf tumbe Nazi-Schergen, die das Versteck stürmen. Es ist ein stilles Finale.

Von Verena Großkreutz

Esslingen - Das tut körperlich weh: diese Stille und Starre auf der Bühne. Die Glockenschläge um 8 Uhr morgens signalisierten den Geflüchteten, sich von nun an absolut ruhig zu verhalten. Denn da kommen die Arbeiter in die Firma Opekta und könnten durch Geräusche aufs Versteck im Hinterhaus aufmerksam werden. Anne Franks Schwester Margot (Sofie Alice Miller) bleibt in eingefrorener Haltung stehen. Die Mutter liegt starr auf der Strohmatratze. Vater van Pels liest und blättert leise in einem Buch. Und Anne Frank? Die schreibt. In ihr Tagebuch.

Viele sich dehnende Minuten hält das Ensemble auf der Bühne der Esslinger Landesbühne (WLB) diese Spannung aus und aufrecht. Bei jedem Knarren der Bodenbretter zuckt man ängstlich zusammen. Zuschauer hüsteln nervös. Die Situation geht unter die Haut. Der stärkste Moment in der Inszenierung von Christine Gnann, die die Theaterfassung des Weltbestsellers „Das Tagebuch der Anne Frank“ auf die Bühne brachte. Erst Turmuhrschläge, die anzeigen, dass es nun sechs Uhr abends ist, erlösen die sieben Menschen auf der Bühne aus ihrer Erstarrung. Dann schaltet man flugs um in den Geschäftigkeits- und Quasselmodus, als wäre nichts gewesen. Endlich wieder Bewegung und Kommunikation, die im Verlauf des zweistündigen Abends immer öfter in Streitereien münden werden.

Wir befinden uns zu diesem Zeitpunkt am Beginn der Aufführung. Es ist der 6. Juli 1942; Familie Frank und die befreundete Familie van Pels sind gerade in ihrem Versteck im Hinterhaus der Amsterdamer Firma Opekta angekommen. Sie schneiden sich die Gelben Sterne aus den Jacken. Den Boden der kargen Bühne von Marion Eisele, die die räumlichen Verhältnisse eines Dachgeschosses nachempfindet und von einem metallenen Gitter umrahmt wird, bedecken viele Strohmatratzen. Mutter Frank hat eine Fuchsie im Blumentopf mitgebracht, Frau van Pels ihren Pelzmantel, andere haben an etwas Nützlicheres wie einen Nachttopf gedacht. Es ist der Beginn eines zweijährigen Wegtauchens aus dem Leben, um das Leben zu retten vor den Nationalsozialisten, die 1940 die Niederlande okkupiert haben. Zwei Jahre werden die beiden jüdischen Familien auf engstem Raum miteinander auskommen müssen - in äußerst intimer Enge, bei knapp rationiertem, immer gleichem Essen und miserabler sanitärer Ausstattung - immer in Angst, dass die Türe hinter dem Bücherregal entdeckt wird und sie von der Gestapo festgenommen und deportiert werden. Nur durch ein Radio und wenige Helferinnen und Helfer sind sie mit der Außenwelt verbunden.

Dieser Abend in der „großen“ WLB ist eine Kooperation mit der Jugendsparte des Hauses, der Jungen WLB. Für Jugendliche ist der Abend auch gut geeignet. Schülern und Schülerinnen, die sich im Unterricht mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigen oder „Das Tagebuch der Anne Frank“ lesen, ist hier die Möglichkeit gegeben, sich in die prekäre Lage Geflüchteter hineinzuversetzen. Christine Gnann und ihr Team versuchen engagiert, die hermetische Atmosphäre fühlbar zu machen, in der die 13-jährige Anne Frank lebt. Ein furchtbar langweiliger Alltag, in dem man verzweifelt versucht, ein bisschen Normalität aufrechtzuerhalten, in dem Haarwaschen zum Ereignis wird, Fotos von Schauspielern Träume von Freiheit befeuern und ein Tagebuch zum Freundinnenersatz avanciert. Und unter dem die Eheverhältnisse leiden, was Marcus Michalski und Kristin Göpfert als zänkisches Ehepaar van Pels eindrücklich zeigen können, während Elif Veyisoglu als Mutter Frank mit feinem, präzisem Spiel ihre Fremdheit selbst innerhalb der eigenen Familie offenbart.

Nach der gut aufgebauten Phase des Beginns bricht dem Abend die Spannung allerdings komplett weg. Es reihen sich Alltagssituationen aneinander: Kartoffelessen am Abend, die Freude über Geschenke und Kerzenanzünden beim Chanukka-Fest, Kabbeleien und Streitereien, das Entflammen zarter Liebesbande zwischen Anne und Peter, dem Sohnemann der van Pels (Benjamin Janssen). Oft werden Szenen von melancholisch-minimalistischen Klavierklängen unterlegt, was kitschig wirkt. Galina Freund spielt Anne Frank als recht unbeschwertes, nettes Mädchen mit aufgedrehtem Charme, dem man die ungeheure existenzielle Belastung der Situation so gar nicht anmerkt. Die gruseligen Albträume, aus denen sie einmal gellend aufschreiend aufwacht, wirken da eher überraschend als plausibel.

Aber es ist auch ein Problem der Theaterfassung von Frances Goodrich und Albert Hackett aus dem Jahr 1955, die aus Anne Franks in Briefform verfassten Tagebuch-Eintragungen einen eher bleiernen, biederen Theaterabend machten. Da hilft es auch nicht, dass man in Esslingen die 1997 von Wendy Kesselman überarbeitete Version spielt, die neuere textkritische Ausgaben des einzigartigen historischen Dokuments berücksichtigt. Ereignisse, die das Tagebuch schildert, werden einfach nachgespielt, auf Abstraktion, Verfremdung und Pointierung wird verzichtet. Zudem fallen viele Aspekte, die durchaus dramatisches Potenzial hätten, unter den Tisch: Etwa die Tatsache, dass sich das Versteck just in jener Firma befindet, dessen Chef Vater Frank (Ralph Hönicke) vor seinem Untertauchen war.

Gut inszeniert ist das Ende des Abends. Man verzichtet auf tumbe Nazi-Schergen, die das Versteck stürmen. Es ist ein stilles Finale: Die Bühnenwände öffnen sich, alle nehmen ihre Koffer und verlassen langsam die Bühne. Zurück bleibt Vater Frank, einziger Überlebender, der berichtet, was mit den anderen geschah. Ihre Deportation in unterschiedliche Konzentrationslager endete tödlich.

Die nächsten Abendvorstellungen sind am 15. und 22. Juli um 19.30 Uhr im Esslinger Schauspielhaus.